Goldrausch: Tannenbergs zweiter Fall
schickte.
Aber wie schon so oft in ihrem aufopfernden Leben nahm sie auch diesmal wieder ihren Lieblingssohn in Schutz und erzählte der erzürnten Autofahrerin und der neugierigen Nachbarschaft eine Lügengeschichte über ihre eigene Unachtsamkeit – auf die dieses Malheur ursächlich zurückzuführen sei.
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»Also Tanne, wenn ich dich so betrachte, drängt sich mir unweigerlich der Gedanke auf, dass wir deinen Spitznamen, zumindest für eine gewisse Zeit, umändern sollten – und zwar in Blautanne! Ist das nicht ein gelungenes Wortspiel?«, grölte der Allgemeinmediziner Dr. Kai Bohnhorst seinem ehemaligen Klassenkameraden entgegen, der allerdings an diesem verregneten Novembermorgen anscheinend gar nicht für derbe Späße zu haben war.
»Wirklich super, ich kann meine Begeisterung kaum zügeln.« Tannenberg warf seine beiden Hände vor das schmerzverzerrte Gesicht und drückte mit den Zeigefingern auf die Schläfen. »Sei doch nicht so laut! Mein Kopf! Diese blöde Gehirnerschütterung!«
»Von wegen Gehirnerschütterung! Deine Fahne riecht man ja zehn Meter gegen den Wind. Weißt du noch, wie wir früher immer gesagt haben: Wer saufen kann, muss auch am nächsten Tag die Kopfschmerzen ertragen können. Komm, zieh dich wieder an! Du siehst ja aus wie das Leiden Christi höchstpersönlich.« Der Arzt warf noch einmal einen begutachtenden Blick auf Tannenbergs arg lädierte rechte Seite. »Wenn ich dich so in Unterhosen vor mir stehen sehe, muss ich unwillkürlich daran denken, dass wir beide im Suff mal auf die unglaublich geniale Idee gekommen sind, nachts im Warmfreibad nackt schwimmen zu gehen. Erinnerst du dich? Wann war denn das?«
»Irgendwann in der Abizeit«, brummte der Kriminalbeamte übellaunig zurück.
»Weißt du noch, wie dann, nachdem wir über den Zaun geklettert waren, plötzlich zwei Schäferhunde knurrend vor uns standen und du immerfort ›ihr lieben, lieben Hundis‹ gesagt hast.«
Kai Bohnhorst lachte erneut schallend auf, nahm die von seinem alten Schulfreund mitgebrachten Röntgenbilder vom Tisch und klemmte sie auf den von hinten beleuchteten Bildschirm.
»Also, du hast ganz schön Glück gehabt! Du solltest dich irgendwann einmal ausgiebig an höherer Stelle für die freundliche Bereitstellung deines Schutzengels bedanken! Der Bruch der Elle ist ganz glatt. In drei Wochen bist du deinen Gips wieder los. Und diese Prellungen sehen zwar schlimm aus, sind aber auch kein Problem. Ich denke, du hast ganz gute Chancen, die Sache relativ unbeschadet zu überstehen. Komm, setz dich noch’n Moment hin. Willst du’n Kaffee?«
»Nein, danke. Ich muss gleich ins Kommissariat. Da wartet ein Verhör auf mich. Gut, Kai, das heißt also, du stellst mir eine Bescheinigung über meine uneingeschränkte Dienstfähigkeit aus.«
»Natürlich, altes Schlachtross, wenn du das unbedingt willst. Mann, bist du vielleicht dienstgeil!«, entgegnete der Mediziner verständnislos kopfschüttelnd. »Also, so was hab ich wirklich noch nie erlebt: Ein Beamter, der mindestens drei Wochen krankgeschrieben werden könnte, bettelt regelrecht darum, von mir seine uneingeschränkte Dienstfähigkeit attestiert zu bekommen. Soll ich dich nicht mal zu einem Kollegen mit einer psychiatrischen Zusatzausbildung überweisen?«
Tannenbergs Verständnis für humoristische Eskapaden hielt sich immer noch in engen Grenzen.
Sein Blick streifte ziellos durch das Arztzimmer.
Plötzlich erspähten seine Augen etwas Interessantes.
»Komm, bevor du jetzt schon wieder anfängst hier rumzugrölen, sag mir lieber mal, was das für’n Prospekt ist, der da vorne liegt. Was ist denn das für einer?«, fragte er neugierig, während er mit seinem unversehrten Arm auf den Schreibtisch seines ehemaligen Klassenkameraden zeigte.
Dr. Bohnhorst nahm die mit goldfarbenen Schriftzügen dekorierte Broschüre in die Hand und hielt sie Tannenberg entgegen.
»Meinst du den hier? Den von MPI ?«
»Ja, genau den.«
»Und, was interessiert dich daran? Willst du etwa Geld anlegen? Du verblüffst mich immer mehr. Warst du in unserer Schulzeit nicht einer von diesen linken Klugscheißern, die immer die tollsten kommunistischen Theorien über notwendige Zwangsenteignungen verkündet haben? Oder wie hieß das gleich noch mal?« Der Arzt grübelte einen kurzen Augenblick und konnte sich bereits nach wenigen Sekunden über sein intaktes Erinnerungsvermögen freuen. »Klar: Übernahme der Produktionsmittel durch die ausgebeutete Arbeiterklasse, oder
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