Goldrausch: Tannenbergs zweiter Fall
Stadt hatte.
Obwohl Tannenberg von solch einer Fernsicht bei diesem trüben Wetter natürlich nur träumen konnte, ließ er sich trotzdem auf einer der von Nebelnässe befeuchteten Holzbänke nieder, die, wie man unschwer an dem etwas mit Patina überzogenen, silbrigen Schildchen erkennen konnte, von einer Sparkasse gespendet worden waren.
Als er so gottverloren vor den nebelverhangenen Kiefern saß, die diesem herbstlichen Szenario wahrhaft gespenstische Dimensionen verliehen, schoben sich nach und nach immer mehr Gedanken in sein deutlich narkotisiertes Bewusstsein; Gedanken, die sich auf Erlebnisse seiner Kindheit bezogen – sich aber nicht darauf beschränkten.
Im Gegensatz zur Innenstadt konnte man von dem kleinen Siedlungshäuschen der Großeltern aus auf direktem Wege in den Wald gelangen, wo man, ohne die belästigenden Überwachungsblicke der Erwachsenen fürchten zu müssen, auf Bäumen herumklettern, Höhlen bauen, waghalsige Schlittenfahrten unternehmen oder mit Feuerwerkskörpern Sprengungen durchführen konnte.
Wie hießen noch mal die Rodelbahnen, fragte er sich gedankenversunken. Genau: ›Holperbahn‹, hieß eine! Wegen der vielen Unebenheiten, die einem die Lattenenden des Holzrodlers in die Eingeweide drückten. ›Franzosenbahn‹, hieß eine andere! Weil sie direkt am Zaun des französischen Militärgeländes begann. Ja, sogar eine ›Todesbahn‹ hatten wir! Die deshalb diesen martialischen Namen trug, weil man bei einer kleinen Unachtsamkeit mit dem rostigen Stacheldrahtzaun des Friedhofs unfreiwillig Bekanntschaft machte.
Das waren schon paradiesische Zeiten und Spielgelegenheiten gewesen, damals in den Sechziger Jahren. Wären da nicht diese marodierenden Kinder- und Jugendbanden aus dem nahe gelegenen sozialen Brennpunkt gewesen, die nichts anderes im Sinn zu haben schienen, als brave, friedliche Bürgerkinder zu erschrecken, zu verfolgen, zu verprügeln, ihre Baumhütten zu zerstören und sie mit Kaugummis und Mohrenköpfen zu quälen.
Einige dieser Barackler, wie sie damals kurz und treffend genannt wurden, weil sie in verwahrlosten Holzbaracken im Enkenbacher Weg hausten, waren ihm später während seiner Tätigkeit als Polizeibeamter hin und wieder über den Weg gelaufen. Manchmal hatte er sich auf besondere Art und Weise bei ihnen für die ihm und seinen Freunden damals zugefügten Schandtaten bedankt: Indem er ihnen das Rauchen während der Verhöre untersagte, sie härter als nötig anfasste usw.
Angesichts dieser Gedanken konnte sich Tannenberg ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
Obwohl er später in seiner Oberstufenszeit, wenn er mit Heiner dessen DKP- und KBW-nahe Freunde besuchte und dort im süßen Rausch des Weltkommunismus schwelgend, die Degenhardt-Ballade ›Spiel nicht mit den Schmuddelkindern‹ gehört und auch selbst mitgesungen hatte, war in ihm eigentlich nie ernsthaft das Bedürfnis aufgekeimt, sich diesen gewalttätigen und verwahrlosten Kindern und Jugendlichen freiwillig auf weniger als Sichtweite zu nähern.
Vom Siedlungshaus der Großeltern in der Gärtnereistraße waren sie auch jedes Jahr gemeinsam mit ihrem Vater in die nahe gelegene Holzendorff-Kaserne zum ›Tag der offenen Tür‹ gepilgert. War der Besuch dieser fremden Welt für ihn und Heiner vor allem wegen der dort ausgestellten Panzer interessant, in die man sich hineinsetzen durfte, so hatte der Vater nur eins im Sinn: Lose zu kaufen. Er hatte weder Interesse an diesem typischen französischen Flair, das trotz der allgegenwärtigen Ärmlichkeit der jungen, kahlrasierten Wehrpflichtigen in dieser Kaserne herrschte, noch an der Begutachtung oder gar am Konsum der angebotenen Speisen und Getränke.
Während die beiden Jungen sich entweder von der Faszination des Kriegsgeräts begeistern ließen oder erste zaghafte Versuche unternahmen, das mühevoll erworbene Schulfranzösisch in der Realität zu testen, investierte er Unsummen in die kleinen zusammengerollten und mit einem dünnen Kupferring umschlossenen Lotterielose, von denen etwa jedes fünfte ihn dazu berechtigte, bei der Gewinnausgabe eine Flasche billigen Schaumwein entgegenzunehmen, den er dann seinen Eltern und seiner Frau als Champagner kredenzte.
Verflucht! Das gibt’s doch nicht, verschaffte sich plötzlich Tannenbergs innere Stimme Gehör. Das ist dieser Geruch! Genau so hat es in den alten Panzern gerochen! Er sog tief die Luft ein, so als könne er dadurch dieses Déjà-vu-Erlebnis verstärken und diesen schon längst
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