Goldrausch: Tannenbergs zweiter Fall
denn immer häufiger, wenn er unangekündigt einen Raum betrat, unterhielten sich die Kollegen über attraktive Investmentstrategien, aktuelle Börsenkurse oder andere Themen des modernen Vermögensmanagements. Ganz unverhohlen träumten einige von exotischen Luxusautos, teuren Immobilien, kostspieligen Traumreisen oder verkündeten Hochrechnungen über den Zeitpunkt ihres vorzeitigen Dienstendes.
Wenn er die bruchstückhaften Informationen, die er auf diese Weise aufschnappte, zu einem Puzzle zusammenfügte, schien fast jeder in seiner näheren Umgebung dem verführerischen Lockruf des Geldes erlegen zu sein und Teile des eigenen Vermögens in alle nur erdenklichen Formen der wachstumsorientierten Kapitalanlage – wie es Geiger so professionell formulierte – investiert zu haben. Viele seiner Kollegen scheuten auch nicht davor zurück, für diesen Zweck umfangreiche Kreditverpflichtungen einzugehen.
Das neueste Zockerobjekt war anscheinend der Handel mit Weizen, Kakao, Zucker – ja sogar mit Schweinehälften. Das seien so genannte Warentermingeschäfte, wie Geiger den staunenden Kollegen erklärte, bei denen man gar nicht die Dinge selbst erwarb, sondern nur eine Option darauf, diese irgendwann einmal kaufen zu können , was aber anscheinend letztlich niemand wirklich tat.
Ein Umstand, den Tannenberg eigentlich zutiefst bedauerte, denn die Vorstellung, einmal leibhaftig dabei sein zu können, wenn Geiger mit seinem schicken schwarzen Porsche die 500 von ihm erworbenen Schweinehälften abholen musste, war doch recht amüsant – fand er jedenfalls.
Dieser vom alten Menschheitstraum nach mühelosem, grenzenlosem Reichtum ausgesandte Virus infizierte anscheinend jeden, der mit ihm in Kontakt kam. Ja, er machte noch nicht einmal vor seiner sonst so vorsichtigen Sekretärin halt, die sich niemals zuvor in ihrem bisherigen Leben auch nur einen Deut für solche Sachen interessiert hatte. Die Euphorie über die fulminanten Wertsteigerungen ihrer Wellness- und Healthcare-Fonds führten sogar dazu, dass sie sich spontan dazu entschied, eine unbefristete Diätpause einzulegen und den frustrierenden Windmühlenkampf gegen ihr Übergewicht so lange auszusetzen, bis sie ihre Garantiedividende in Form der Gutscheine für Beautyfarms in den Händen hielt.
Obwohl Tannenberg noch immer sehr distanziert und mit größter Skepsis diese schier unglaubliche Börsenrallye beobachtete, konnte er doch nicht die positiven Effekte leugnen, die diese wundersame Geldvermehrung mit sich brachte.
Das aus dem täglichen Blick in den Wirtschaftsteil der Zeitungen resultierende Gefühl, angesichts der permanent steigenden Kurse der MPI -Fonds objektiv immer reicher zu werden, sorgte für beste Stimmung unter seinen Mitarbeitern. Jeder war freundlich, spendabel, gelöst.
Man ging in der Mittagspause nicht mehr in die Kantine, sondern speiste abwechselnd in verschiedenen Restaurants in der Nähe der Dienststelle; man besuchte gemeinsam Designerläden – kurzum: jeder genoss den süßen Wein des wachsenden Wohlstandes und erfreute sich der damit verbundenen enormen Steigerung der subjektiven Lebensqualität.
So ähnlich musste es wohl bei Milch und Honig im Paradies zugegangen sein, dachte Tannenberg des Öfteren – jedenfalls bis diese gemeine, hinterlistige Schlange wie aus dem Nichts auftauchte.
Selbst vor seiner eigenen Familie machte der immer dominanter vom Alltagsleben Besitz ergreifende Goldrausch nicht halt. Vater Jacob setzte seine arme Frau weiter mächtig unter Druck und wollte sie unbedingt dazu bewegen, das gemeinsame Sparbuch aufzulösen und dafür Aktien am Neuen Markt zu kaufen. Aber er hatte damit keinen Erfolg, denn Mutter Tannenberg weigerte sich auch weiterhin strikt, diese gewünschte Umschichtung vorzunehmen.
Eines ihrer Gegenargumente bestand darin, ihrem Mann vorzuwerfen, dass er jeden Monat sein gesamtes Geld verspiele. Sie wurde dabei von ihrem jüngsten Sohn tatkräftig unterstützt, der seinen biologischen Erzeuger nur allzu gerne darauf hinwies, dass der Senior bei seinen beiden letzten Oddset-Tipps jeweils den gesamten Wetteinsatz verloren hatte. Vor allem deshalb, weil er trotz der Warnungen seines Sohnes einfach nicht wahrhaben wollte, dass der 1. FCK sogar die beiden Spiele gegen die Aufsteiger verlieren würde, – was diesem aber recht mühelos gelang.
Sogar seine ansonsten dem Kapitalismus sehr kritisch gegenüberstehende Schwägerin Betty ließ sich von dieser überall grassierenden Manie anstecken
Weitere Kostenlose Bücher