Goldrausch: Tannenbergs zweiter Fall
vor!«
Tannenberg staunte Bauklötze. „Woher weißt du denn das alles? Lernt man so was heutzutage etwa in der Schule?«
„Fuck Schule, so was lernen wir doch nicht; wir lernen nur total unnötigen Scheiß! Nein, das mit der Börse hat uns Pauls Vater erklärt. Ich war da auch schon mal dabei, wie die getradet haben.«
„Wo warst du dabei?«
„Na, am PC, als Pauls Vater Optionsscheine gekauft hat. Und dann haben wir die Realtime-Kurse eine Zeit lang beobachtet. Und 20 Minuten später hat er die Dinger wieder verkauft – mit einem kurzen Mausklick. Und war 1.200 Euro reicher! Das ist so geil, Onkel Wolf, so megageil!«
„Na ja, ich weiß nicht. Da ist doch bestimmt auch ein großes Risiko dabei!«
„Ach Quark! Der Opa will das jetzt übrigens auch machen.«
„Was will der?«
„Online-Brokerage machen. Er hat schon einen Antrag gestellt. Der ist so richtig cool, der Opa! Aber ich komm einfach nicht an meine Kohle auf dem Sparbuch ran. Das wär doch so geil, wenn ich endlich Mäuse für ’nen eigenen Skooter hätte. Dann müsst ich nicht immer darum betteln, mit der alten Keule meiner zickigen Schwester rumfahren zu dürfen. Kannst du nicht mal mit meinen Alten reden?«
„Du weißt doch, dass ich bei deinen Eltern überhaupt nichts erreiche. Wenn ich bei deiner Mutter nur den Mund aufmache, hab ich schon verloren.«
„Weißte, was die gesagt hat?«, Tobias zog die Mundwinkel nach unten und äffte die markante Stimmlage seiner Mutter nach: „Die Börse ist das Teufelswerk des internationalen Kapitalismus.«
„Wolf, denkst du heute Abend an den 70. Geburtstag von Bettys Vater?«, rief plötzlich Heiner vom Treppenhaus aus.
Tannenberg öffnete Tobis Zimmertür.
„Oh nein, Heiner! Da muss ich doch nicht wirklich mit, oder?«, fragte er flehend in Richtung seines Bruders, der sich aber unerbittlich zeigte und ihn darauf hinwies, dass Bettys Familie wie immer größten Wert auf ein vollzähliges Erscheinen der Tannenberg-Sippe legte.
„Ich hab aber keinen Bock auf dieses Grufti-Treffen«, schimpfte Tobias und donnerte die mit weißen Kunststoffspitzen versehenen Wurfpfeile nacheinander auf seine neue Dartscheibe.
Angesichts dieses Horrorszenarios revidierte Tannenberg spontan seine heute Morgen entworfene optimistische Tagesprojektion. Oder, um diese veränderte Einschätzung sowohl rustikaler als auch passender zum Berufsstand der Gastgeber auszudrücken: Der Tag war versaut. Schließlich handelte es sich bei Bettys Eltern um eine alte Sippersfelder Bauernfamilie, die sich seit Generationen der Schweinezucht verschrieben hatte.
Die erneute Heimniederlage des FCK trug ebenfalls nicht gerade zu Tannenbergs Stimmungsverbesserung bei. Und als er auch noch daran dachte, dass das wirtschaftliche Überleben dieses Vereins, dessen Trikot er in der D- und C-Jugend einige Jahre lang getragen hatte, vom Wohlwollen eines ziemlich suspekten Finanzdienstleisters abhängig war, hätte er sich vor lauter Wehmut am liebsten mit einer Flasche Rotwein irgendwohin verkrochen.
Mit einer ersten Fuhre hatte Heiner bereits seine ungeduldigen Eltern, für die diese Geburtstagsfeier ein ausgesprochenes Highlight in ihrem ansonsten recht tristen Seniorenalltag darstellte, zu der Gaststätte in der Nähe des Städtischen Warmfreibades gebracht. Als er endlich wieder in der Parkstraße erschien und den Wagen vor dem ›Südhaus‹ genannten Teil der Tannenbergschen Wohnanlage zum Stehen brachte, riss Betty sofort die Beifahrertür auf und platzierte sich, noch bevor der lädierte Kriminalbeamte überhaupt die Situation richtig registriert hatte, selbstbewusst auf den Vordersitz.
Ein guter Anlass, seine geliebte Schwägerin wieder einmal mit ihrem richtigen Vornamen anzusprechen: „Sag mal Elsbeth, hast du noch nie etwas von einem Behindertenbonus gehört?«
„Das würde dir so passen, du alter Jammerlappen«, zischte Betty aggressiv zurück, die immer, wenn er sie bei ihrem ursprünglichen Geburtsnamen ansprach, sofort ihren Walkürencharakter offenbarte.
Während Tannenberg sich schmollend zwischen die Kids auf den Rücksitz quetschte, tröstet er sich ein weiteres Mal mit der – wegen der anwesenden Jugendlichen nicht öffentlich gemachten – festen Überzeugung, dass sich seine rothaarige Schwägerin im finsteren Mittelalter garantiert nicht lange ihres Lebens hätte erfreuen können, da sie sicherlich eine der ersten gewesen wäre, an der irgendein Inquisitionstribunal die Funktionsfähigkeit eines
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