Goldrausch: Tannenbergs zweiter Fall
und gründete gemeinsam mit ihren sozialistischen Gewerkschaftsfreunden einen Investmentclub, der sich laut Satzung dazu verpflichtete, ein Zehntel der erzielten Gewinne in soziale und humanitäre Projekte fließen zu lassen.
Nur die im Zuge der Börsenhausse aufgeflammten Begehrlichkeiten seines Neffen Tobias stießen auch weiterhin auf eine Mauer der Ablehnung, weigerten sich seine Eltern doch immer noch vehement, seinem Wunsch nach Auflösung seines Sparbuchs Folge zu leisten. Allerdings trotzte er ihnen mit Unterstützung Tannenbergs das Versprechen ab, dass, falls die Börsengeschäfte, die sein Vater Heiner über den Direct-Brokerage-Zugang des Seniors abwickelte, zum Erfolg führen würden, man ihn am Gewinn beteilige und er so doch noch zu seinem heiß ersehnten eigenen Scooter kommen könne.
Daraufhin verschaffte sich Tobias schon einmal vorsichtshalber einen Überblick über das aktuelle Scooterangebot, während sein Vater BMW-Prospekte wälzte und Betty Kontakt zu einem Immobilienhändler aufnahm, dessen Spezialität die Vermittlung von alten Bauernhäusern in der Toskana war.
Im Gegensatz zum frustrierenden Stillstand in der polizeilichen Ermittlungsarbeit machte Tannenbergs körperlicher Regenerationsprozess erstaunlich schnelle Fortschritte. Die handtellergroßen Blutergüsse, die seine rechte Körperhälfte wie Feuermale bedeckten, wechselten nacheinander die Farben und verschwanden dann gänzlich. Die starken Prellungen verflüchtigten sich ebenfalls mehr und mehr und ließen wieder völlig normale Bewegungsabläufe zu.
Das einzige, was seinen Allgemeinzustand massiv beeinträchtigte, war ein allgegenwärtiger, fürchterlicher Juckreiz unter seinem Gipsverband, der ihn manchmal schier zum Wahnsinn trieb. In seiner Verzweiflung führte er in der Innentasche seines Sakkos stets ein langes Lineal mit sich, das er fast ohne Unterbrechung zu seinem eng ummantelten Unterarm führte und auf diesem herumkratzte.
Bereits zwei Tage vor dem Termin, den er von Dr. Bohnhorst genannt bekommen hatte, erschien Tannenberg in dessen Praxis und bat seinen alten Schulfreund in herzerweichender Manier, ihn doch bitte sofort von dieser Armfessel zu befreien. Der ihm sehr wohlgesonnene Arzt hatte ein Einsehen und erhörte sein jammervolles Flehen, was der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission ihm dadurch dankte, dass er sich, direkt nachdem die Gipsmanschette durchtrennt war, an das in einer Ecke des Arztzimmers etwas versteckt angebrachte Waschbecken begab und dort wie ein Besessener auf seinem Arm herumschrubbte – und dabei eine unglaubliche Schweinerei verursachte.
Als Tannenberg wenig später euphorisch wie ein Frischverliebter zu Hause in der Beethovenstraße erschien, erfuhr sein psychisches Wohlbefinden einen weiteren positiven Schub dadurch, dass sich seine Mutter nach der Sache mit der Fleischwurstspur augenscheinlich vorgenommen hatte, ihren heiß geliebten Sohn von der von ihm als massive Belästigung empfunden Kreatur fernzuhalten. Deshalb schnappte sie sich jedes Mal, sobald er sich näherte, sofort den Dackel und sperrte ihn in den Keller.
Voller Tatendrang begab sich der Kriminalbeamte in die Höhle der Löwin, sprich, in das von seinem Bruder und dessen Familie bewohnte Haus in der Parkstraße, das er sonst mied, wie der Teufel das Weihwasser. Aber da sein Bedürfnis nach einer Dartspiel-Revanche so unbändig war, konnte er sein Verlangen danach einfach nicht länger zügeln. Er scheuchte deshalb den armen Tobias ziemlich rücksichtslos von der leidenschaftlichen Beschäftigung mit dessen über alles geliebten Hausaufgaben weg.
Tannenberg brauchte zwar ein ganzes Spiel, bis er wieder etwas mehr Gefühl in seinen rechtem Arm hatte, aber dann legte er los und verpasste dem staunenden Neffen eine deftige Niederlage; wobei er beim ›501er-Spiel‹ ein Bullseye, wie die Dartfreaks das Scheibenzentrum nennen, nach dem anderen traf. Nachdem er sich mit Hilfe dieses Erfolgserlebnisses ein wenig abreagiert hatte, wurde er etwas ruhiger und konnte sich dadurch noch besser konzentrieren. Mit dem für Tobias niederschmetternden Ergebnis, dass dieser bei ›Round the Clock‹ nun überhaupt kein Land mehr sah.
Während Tobias seine Pfeile auf die Dartscheibe warf, betrachtete Wolfram Tannenberg seinen Neffen von der Seite und stellte überrascht fest, wie erwachsen und männlich dieser in letzter Zeit geworden war. Seit neuestem rasierte er sich sogar in festen Zeitabständen und benässte
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