Goldrausch: Tannenbergs zweiter Fall
dessen war, was Heiner so gewöhnlich an politischen Weisheiten von sich gab.
Regelmäßig wurden die hitzigen Debatten durch eine Exkursion in die nur zwei Häuserecken entfernte Studentenpizzeria unterbrochen, wo man den stets in einen lautstarken Streit mit seiner korpulenten Gattin verstrickten Francesco mit Forderungen nach Optimierung der nur spärlich belegten Billigpizza mit Hilfe zusätzlicher Parmesangaben schier zum Wahnsinn trieb.
Tannenberg riss sich von seinen Gedanken los und versuchte, einige Gesprächsfetzen von den um ihn herumsitzenden jungen Leuten zu erhaschen. Aber schon nach einem kurzen Lauschangriff gewann er den Eindruck, dass man sich heute über alles Mögliche unterhielt – nur nicht über Politik.
Sein Blick schwebte hinüber zu dem angegrauten Kneipenwirt, der hinter der Theke stehend gerade ein Pils zapfte. Als dieser seinen Blick bemerkte, hob er linken Zeigefinger, drehte seinen Oberkörper zur Wand und wechselte die Musikkassette in der Stereoanlage aus. Dann drückte er die Starttaste, grinste in Richtung seines alten Weggefährten aus fernen Zeiten und wendete sich wieder der vorschriftsmäßigen Befüllung des bauchigen Pilsglases zu.
Sofort nachdem Tannenbergs Ohren die unverwechselbaren Anfangstakte von ›Child in time‹ vernommen hatten, erhöhte sich seine Pulsfrequenz, Wehmut umkrampfte sein Herz. Er sah sich durch eine Zeitmaschine plötzlich zurückversetzt in das Jahr 1975, wo an einem warmen Sommerabend, im Quartier Latin eine der legendären Sommerfeten stattfand.
Mit seiner Clique war er schon recht früh erschienen und hatte gleich damit begonnen, zum x-ten Mal das im Mai am Rittersberg-Gymnasium abgelegte, mit einem Notenschnitt von 3,8 mit Hängen und Würgen gerade noch so bestandene Gnadenabitur zu feiern.
Obwohl er es im Laufe seiner Oberstufenzeit durchaus ab und an geschafft hatte, eine junge Dame zumindest zeitweise für sich zu begeistern, musste er sich doch eingestehen, dass bei diesen Kurzliaisons die Richtige bislang nicht dabei gewesen war.
Zwar gab es am Mädchengymnasium in der Burgstraße, das man damals allerdings nicht so nannte, sondern nur als ›HWB‹ bezeichnete, genügend hübsche Burgfräuleins in Tannenbergs Altersklasse, aber entweder waren diese bereits in festen Händen oder sie waren unglaublich attraktiv und deshalb so extrem umschwärmt von den vielen brünstigen jungen Männern, dass diese hübschen weiblichen Geschöpfe sich anscheinend nicht festlegen konnten oder wollten.
Eines dieser begehrenswerten Geschöpfe hieß Lea und besuchte die 12. Jahrgangsstufe, die damals noch Unterprima hieß. Und genau diese junge Dame, die Tannenberg schon oft in die Kategorie ›absolute Traumfrau‹ eingeordnet hatte, kam an diesem warmen Juliabend ins Quartier Latin . Zu seinem großen Leidwesen allerdings nicht alleine, sondern mit einem Fanclub, dessen Mitglieder um die strahlende Lichtgestalt wie die berühmten Motten herumschwirrten.
Wehmütig und resigniert beobachtete er das um Lea herum inszenierte Balz- und Turtelspiel und schüttete Landwein um Landwein in sich hinein. Irgendwann legte er seine Lethargie dann ab, wankte in den Innenhof auf die provisorische Tanzfläche, schloss die Augen und gab sich nur noch der Musik hin. Er koppelte sich mehr und mehr von seiner Umgebung ab, war völlig in Frieders Lieblingskassette eingetaucht und registrierte nur am Rande den plötzlich aufkommenden starken Wind und die dicken Regentropfen. ›Lokomotive Breath‹ hob die Distanz zwischen ihm und der Musik vollständig auf, er verschmolz mit ihr zu einer Einheit.
Am Ende des Songs ließ er seine sehr harmonischen Tanzbewegungen langsam ausklingen und wartete mit geschlossenen Augen auf das nächste Stück. Plötzlich spürte er etwas Warmes und Feuchtes in seinen Händen: Es waren Leas Finger, die ihn sanft zu streicheln begannen. Als er verklärt die Augen öffnete und er sie pitschnass vor sich stehen sah, meinte er, sich nun völlig von der Realität abgelöst zu haben und in einen wunderbaren Traum hineingeglitten zu sein.
Um diesen Zustand so lange wie möglich zu konservieren, schloss er wieder seine Augen und wollte sich zu der beginnenden Melodie von ›Child in time‹ erneut tanzend in Bewegung setzen. Aber Lea hielt ihn fest, schmiegte zart ihren Körper an den seinen und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf den regennassen Mund. Eine bislang nie erlebte Euphoriewelle schwappte über seinen gesamten Körper: Er bekam
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