Goldstein
ein Schwall dunkles Blut aus seinem Mund, Alex wischte es ab mit ihrem Ärmel. Benny schaute sie an, schaute sie die ganze Zeit an, mit einer Wehmut im Blick, als nehme er Abschied. Dann schloss er die Augen.
»Nein«, sagte Alex, »nicht aufgeben, hörst du, nicht aufgeben! Der Krankenwagen ist gleich hier.«
Benny öffnete die Augen nicht mehr. Das pfeifende Atmen wurde immer hektischer, und plötzlich setzte es aus, als habe jemand ein Gerät abgeschaltet. »Nein«, schrie Alex, »nein! Du kannst doch nicht einfach sterben! Du darfst nicht!«
Sie brüllte ihn an, doch sie wusste, er konnte sie nicht mehr hören. Langsam sackte sein Kopf zurück auf das Gehwegpflaster.
Alex schaute sich um. Ein paar Schaulustige waren vom Tauentzien herübergekommen. Der Nickelbrillenmann war noch nicht wieder aufgetaucht, auch kein Krankenwagen. Aber dafür traten aus einer unscheinbaren Seitentür des KaDeWe ein paar Uniformierte.
Sie schluckte ihre Tränen runter und rannte los.
»Halten Sie den Jungen fest! Das ist einer von ihnen!«
Alex drehte sich nicht um, sie wusste auch so, dass sie jetzt gejagt wurde. Sie musste sich die Passanten vom Leibe halten, pöbelte eine elegante Dame beiseite, die ins Schaufenstergitter fiel, und rannte auf die Menschenmasse zu, die sich den Tauentzien hinunterwälzte. Da irgendwo untertauchen und dann weg. Eine Trillerpfeife schrillte hinter ihr, und dann rief jemand.
»Halt! Stehen bleiben! Polizei!«
Sie rannte weiter, quer über den Gehweg auf die Tauentzienstraße, vorbei an hupenden Autos, ein Taxi hielt mit quietschenden Bremsen, der Fahrer schimpfte, doch Alex hörte gar nichthin. Nach dem, was Benny passiert war, fürchtete sie plötzlich um ihr Leben. Sie hechtete kurz vor einer Straßenbahn, deren Fahrer die Warnglocke tönen ließ, über den Mittelstreifen und rannte weiter, in die gleiche Richtung wie die Elektrische, die gemütlich ostwärts zockelte. Ihr Blick fiel auf das Warnschild, das ein Aufspringen während der Fahrt strengstens untersagte. Sie überlegte nur einen kurzen Moment, beschleunigte und sprang auf die Plattform, drängte sich hinein in den Wagen, versuchte, einen Blick durch die Fenster auf der anderen Seite zu erhaschen, die von den Fahrgästen größtenteils verdeckt wurden. Da standen sie, ihre Verfolger. Zwei Blaue warteten darauf, dass die Straßenbahn, die nun schon zur Kurve um den U-Bahnhof Wittenbergplatz ansetzte, den Weg endlich wieder freigab. Alex drängelte sich weiter in den Wagen, nicht auf das Geschimpfe der Leute achtend. Sie schaute auf das Linienschild. Die Sechs. Fuhr nach Schöneberg. Nicht ganz ihre Richtung, aber wenn sie schon am Wittenbergplatz wieder ausstiege, würden die Bullen sie womöglich noch entdecken. Die Elektrische hielt, und in die Menschenmenge kam Bewegung. Es stiegen mehr aus als ein, Alex musste sehen, wie ihre Deckung mehr und mehr schrumpfte. Immer wieder schaute sie aus dem Fenster, doch sie konnte keine blaue Uniform entdecken. Als letzter Fahrgast stieg ein dicker Mann zu, dem sie gleich auf die Pelle rückte. Während sie sich hinter dem Dicken versteckte, hielt sie die Türen im Auge. Nicht dass im letzten Augenblick noch ein Blauer aufsprang. Doch dann bimmelte es, und die Bahn setzte sich wieder in Bewegung. Mit jedem Meter nahm die Elektrische mehr Fahrt auf, mit jedem Meter löste sich Alex’ Anspannung. Sie hatte die Bullen abgehängt!
Mit einem Mal spürte sie die Wunde in ihrer Hand wieder pochen. Das Blut war bereits durch den provisorischen Verband gesickert. Den Verband, den Benny ihr angelegt hatte. Vor einer Stunde vielleicht, länger konnte das kaum her sein. Die Trauer überfiel sie so plötzlich wie ein wildes Tier, das unsichtbar in einem dunklen Gebüsch gelauert hatte. Die Tränen schossen ihr in die Augen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, und sie fing so hemmungslos an zu weinen, wie sie seit Jahren nicht mehr geweint hatte.
Erst als sie sich wieder beruhigt hatte und die Tränen mitdem Ärmel abwischte, merkte sie, dass alle im Wagen sie anstarrten.
»Was gibt’s denn da zu glotzen?«, fauchte sie, und die Leute, die eben noch mitleidig geguckt hatten, rückten von ihr ab.
2
D as hatte man nun davon, wenn man pünktlich war: Man durfte warten. Rath betrachtete abwechselnd die Bilder an der Wand und seine Fingernägel. Auf seinem Jackett entdeckte er einen kleinen Fettfleck. Den grauen Anzug trug er schon viel zu lang; hätte er gewusst, dass die Häuptlinge ihn heute sehen
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