Goldstein
nichts Greifbares hinterlassen außer ein paar Notizen in Raths schwarzem Buch. Nicht einmal einen Namen oder eine Adresse.
Erika Voss hatte den Zettel mit dem Hakenkreuz auf ihrem Schreibtisch gefunden und sich gewundert. Jetzt lag das Blatt zerknüllt im Papierkorb. Keine Viertelstunde, nachdem der Jude das Weite gesucht hatte, war die Sekretärin aus der Pause zurückgekommen. Sie hatte sich irritiert umgeschaut, bevor sie den Zettel zerknüllt hatte – vielleicht hielt sie irgendwen in diesem Büro nun für einen Nazi. Auch Reinhold Gräf hatte nach der Mittagspause kurz vorbeigeschaut, bevor er zurückgegangen war zu seinem Vernehmungsmarathon. Das war der Moment, in dem Rath kurz überlegt hatte, die Tür zum Vorzimmer zu schließen und dem Kollegen unter vier Augen von dem alten Juden zu erzählen, aber dann war er doch davor zurückgeschreckt. Sollte er wirklich zugeben, und dann noch gegenüber einem Kriminalsekretär, dass ihm schon wieder jemand durch die Lappen gegangen war?
Zumal der Kriminalsekretär ihm demonstriert hatte, wie man esrichtig machte: Gräf hatte von einem Zeugen erzählt, einem halbseidenen Händler aus dem Scheunenviertel, der Goldstein auf der Polizeizeichnung erkannt hatte. Der Kriminalsekretär hatte dem Mann versprochen, keine Ermittlungen gegen ihn anzustrengen, und als Gegenleistung eine wertvolle Aussage erhalten: Der Mann auf der Fahndungszeichnung, so hatte der Händler erzählt, habe vor einer Woche eine Pistole bei ihm gekauft. Er konnte sich gut daran erinnern, weil der Mann mit Dollars gezahlt hatte. Und weil eine Remington 51 in Berlin doch eher selten benutzt werde. »Der erste Volltreffer«, hatte Gräf gesagt, bevor er zurück in den Vernehmungsraum gegangen war. »Das Projektil, das wir haben, könnte aus einer Remington abgefeuert worden sein.« Rath hatte genickt und den Kriminalsekretär ziehen lassen.
Er holte einen Pharusplan aus der Schublade und faltete ihn auf seinem Schreibtisch auseinander. Bei seinem Spaziergang mit Kirie vorhin war ihm der Gedanke gekommen, dass sie Goldstein im Wedding suchen mussten und nirgendwo sonst. Seinerzeit hatte er es für einen Tipp des Taxifahrers gehalten, dass der Gangster ihn ausgerechnet in der Kösliner Straße abzuhängen versucht hatte, ebenso, dass sie zuvor schon längere Zeit durch den Wedding gekreuzt waren. Aber dann, Goldsteins zweiter Ausflug: Humboldthain, U-Bahnhof Gesundbrunnen – dieselbe Gegend, höchstens ein, zwei Kilometer von der Kösliner Straße entfernt.
Das konnte kein Zufall sein.
Schon bei seiner ersten, scheinbar planlosen Fahrt per Taxi durch die halbe Stadt hatte Goldstein etwas zu erledigen gehabt, und zwar im Wedding, und Rath hatte ihm mit seiner Hartnäckigkeit die Tour vermasselt. Irgendetwas gab es in diesem Viertel, das Abraham Goldstein magisch anzog, und es galt herauszufinden, was das war.
Nachdenklich studierte Rath den Stadtplan, nahm einen weichen Bleistift und markierte zunächst die Kösliner Straße, dann den Bahnhof Gesundbrunnen, betrachtete die beiden Kreuzchen aus einiger Entfernung wie ein Maler sein Werk, um schließlich kurzentschlossen das ganze Karree zwischen Ringbahntrasse und Osloer Straße großräumig einzukringeln. Er faltete den Plan zusammen und steckte ihn ein, überließ Kirie der treusorgenden Obhut von Erika Voss und machte sich auf den Weg.
Je länger er im Wagen saß, desto besser fühlte er sich. Endlich wieder etwas tun! Über die Rosenthaler Straße fuhr er in den Norden. Erst am Humboldthain drosselte er sein Tempo, schaute zur Himmelfahrtkirche hinüber, wo sie den toten SA-Mann gefunden hatten, und fuhr in gemächlicher Geschwindigkeit weiter, vorbei am südlichen Eingangsgebäude des U-Bahnhofs, aus dem Goldstein gekommen sein musste, um dem alten Juden und den SA-Männern zu folgen, und überquerte schließlich die breite Trasse der Ringbahn.
Einen genauen Plan hatte er nicht. Einfach ein bisschen herumfahren in der Gegend, die er markiert hatte, und dann weitersehen. Beim Fahren konnte er ohnehin am besten denken, und die Augen offen halten. Wenn es in diesem Viertel etwas geben sollte, das mit Abraham Goldstein zu tun haben und sie wieder auf seine Spur bringen könnte, dann würde er es schon irgendwann finden.
Er fuhr die Badstraße nur noch ein kurzes Stück hoch und bog dann links in die Pankstraße ab – die direkte Verbindung zwischen Kösliner Straße und Gesundbrunnen, den beiden dicksten Markierungen auf seinem Plan. Die
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