Goldstein
die gleichen Gesichtszüge, nur markanter, die Haut faltiger, die Augen tiefer, die Nase größer und die Ohren. Erst seit er in Berlin war, wusste er, dass er seinem Großvater ähnlicher sah als dem Vater. Und der Großvater dem Enkel ähnlicher als dem Sohn.
Ein einziges Mal nur hatte er ihn besuchen wollen, und nun war er jeden Tag hier gewesen. Es war fast schon zur Routine geworden, über den Hintereingang ins Krankenhaus zu kommen. Mitder Selbstverständlichkeit eines jungen Chefarztes bewegte er sich durch die Gänge, und kein Mensch hatte bislang Verdacht geschöpft. Mit ein wenig Chuzpe ging vieles einfacher, das wusste er schon lange. Sogar das Sterben.
»Abraham! Da bist du wieder«, sagte der Mann in den Kissen und lächelte. Er hatte kaum noch Kraft, und jedes Wort schien ihm Schmerzen zu bereiten, doch man sah ihm an, er wollte sprechen. Wollte sprechen, solange ihm das noch möglich war. »Hast du deine Tanten schon besucht?«
»Ich weiß nicht, ob die mich wirklich sehen wollen, Seide. Du hast ihnen doch nichts erzählt?«
»Musstse besuchen! Die Schwestern deines Vaters! Die Mischpoche ist wichtig! Auch wennse einem manchmal auf die Nerven geht.« Er lachte leise, bis der Schmerz ihn unterbrach.
Abe nickte nur, ein unbestimmtes Nicken, und der Alte ergriff seine Hand. »Hast du’s bekommen?«
Diesmal war Abes Nicken eindeutig. Er wusste, dass dies heute sein letzter Besuch sein würde. »Ja«, sagte er und drückte die alte Hand.
Das Gesicht des Großvaters entspannte sich.
»Zeig es mir«, sagte er.
Abe holte die Spritze aus der Tasche. Er hatte sie bereits aufgezogen. Schon im Hotelzimmer hatte er alles vorbereitet – eine üble Absteige, kein Vergleich mit dem Excelsior . Aber wenigstens wollte man dort keine Namen wissen und keine Pässe sehen. Dafür hatte der Portier ganz besondere Tipps auf Lager. Wusste zum Beispiel, wo man günstig an Morphium kommen konnte.
Er zeigte seinem Großvater die präparierte Spritze, und der alte Mann schaute auf die Flüssigkeit, die durch den Glaskolben schimmerte. Er nickte zufrieden, dann stöhnte er leise auf und verzog das Gesicht, die Hand verkrampfte. Abe hielt sie fest, auch wenn es wehtat.
Der Schmerzschub war vorüber; der Großvater schaute ihn an. »Jetzt«, sagte er. »Ich möchte sie jetzt.«
»Jetzt sofort? Ist es so eilig?«
»Noch vor dem Abendessen.«
»Das muss aber verdammt schlecht sein ...«
Die Lachfalten an den Augen des Großvaters zogen sich zusammen. »Das ist es«, sagte er und nickte. »Lieber möchte ich sterben, als den Fraß noch einmal essen zu müssen.«
Er lachte über seinen Witz, doch damit holte er die Schmerzen zurück.
»Jetzt«, sagte er noch einmal und war ganz ernst.
Abe nickte. Er nahm die Spritze aus dem Futteral und drückte ein wenig, bis der erste Tropfen Morphium kam. Dann legte er den rechten Arm seines Großvaters frei und suchte in der Armbeuge nach einer Vene. Der Arm war erschreckend dünn, die Haut bleich, voller Altersflecken, die Haut eines Toten. Abe stach zu und drückte den Inhalt des ganzen Kolbens in die Vene, dann tupfte er den Einstich mit einem Wattebausch ab.
Nun gab es kein Zurück mehr. Als Abe die Spritze beiseitegelegt hatte, ergriff der Großvater erneut die Hand seines Enkels. Er hielt sie fest, als wolle er nie wieder loslassen.
»Danke«, sagte er leise. »Wie lange?«
»Wenige Minuten. Du wirst einschlafen. Keine Schmerzen mehr spüren.«
Der Alte sank zurück in die Kissen. Er schien die segensreiche Wirkung des Morphiums bereits zu spüren, das die Schmerzen zu vertreiben begann.
»Broadway«, sagte er, und die müden Augen leuchteten bei diesem Wort. »Erzähl mir noch einmal vom Broadway.«
Und Abe erzählte. Er hatte es bei all seinen Besuchen in den vergangenen Tagen nicht vermocht, dem Großvater die Wahrheit zu sagen: dass es einen großen Unterschied gab zwischen dem Broadway in Manhattan, den alle Welt kannte, und dem von Williamsburg, wo Nathan Goldstein mit seiner Familie eher gehaust hatte als gewohnt. Und so sponn Abraham Goldstein das Lügenmärchen fort, das sein Vater vor vielen Jahren einmal begonnen hatte. Abe wusste, dass Nathan Goldstein dem in Berlin zurückgebliebenen Großvater regelmäßig geschrieben hatte, aber er hatte nie eine Ahnung gehabt, was. Lügen über Lügen musste der fromme Mann zu Papier gebracht haben. Dass er sein Glück in Amerika gemacht habe, eine Wohnung am Broadway bezogen und mit einer eigenen Kleiderfabrik viel
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