Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
Vom Netzwerk:
Geld gemacht. Was hätte er auch sonst schreiben sollen? Erst jetzt, hier in Berlin, war Abe klar geworden, welch große Hoffnungen die zurückgebliebenenGoldsteins in Nathan gesetzt hatten, den ältesten Sohn. Nur für eine Überfahrt hatten sie das Geld zusammenkratzen können und hatten ihn geschickt, stellvertretend für alle, dass er den Rest der Familie nachhole, wenn er es geschafft habe. Doch dazu war es nie gekommen: Nathans Schwestern hatten ihr Glück in Berlin gefunden und auch den Großvater zum Bleiben bewegt; so hatte niemand erfahren, dass Nathan Goldstein es gründlich vermasselt hatte in den Staaten. Der Einzige, der das wusste, war sein Sohn Abraham. Und der verriet den Vater nicht.
    Tante Lea hatte einen Altmetallhändler geheiratet, einen Schwarzhut zwar, der sein Leben Gott gewidmet hatte, aber nichtsdestoweniger erfolgreich im Geschäft war; und Tante Margot hatte es sogar zur Rechtsanwaltsgattin gebracht, an der Seite eines liberalen und eher weltlich orientierten Ehemannes, was regelmäßig zu den heftigsten Familienstreitigkeiten führte, insbesondere an hohen Feiertagen. Eine Tatsache, die den Großvater eher zu belustigen schien, wenn er davon erzählte.
    Bei jedem seiner Besuche hatte Abe die wundersamen Geschichten Nathan Goldsteins, die er von seinem Großvater hörte, weiter ausgeschmückt und sich an den leuchtenden Augen des alten, kranken Mannes gefreut. Und das tat er auch jetzt, erzählte von dem Tag, als Nathan Goldstein auf die Idee gekommen war, Produktion und Verkauf von Konfektionsware unter dem Dach einer Firma zu vereinen, und dass er den großen Erfolg dieser Idee leider nicht mehr habe miterleben können. Die Beerdigung seines Vaters schilderte Abe so herzergreifend, dass es ihn beinahe selbst rührte: als sei halb New York dem Sarg Nathan Goldsteins gefolgt, wo es doch in Wahrheit eine ziemlich trostlose und armselige Angelegenheit gewesen war. Mit einem betrunkenen Sohn als unrühmlichem Höhepunkt.
    Seiner deutschen Verwandtschaft war Abe aus dem Weg gegangen, vielleicht, weil er ihr nicht dieselben Lügen auftischen wollte wie dem alten Mann, dem er damit Trost spendete. Nur ein zweites Mal hatte er seine Tanten und deren Familien noch zu Gesicht bekommen, gestern, als er auf der Schulstraße im Schatten der Bäume darauf gewartet hatte, dass die Besuchszeit zu Ende ging und wieder Ruhe herrschte in den Gängen des Krankenhauses. Der junge Schwarzhut war wieder dabei gewesen, Joseph Flegenheimer,wenn Großvaters Beschreibung zutraf, der älteste Sohn des Altmetallhändlers, ungefähr in Abes Alter. Einmal hatte der Cousin herübergeschielt auf die andere Straßenseite und für einen Moment gestutzt, bevor er sich wieder den anderen zuwandte. Abe, der den Hut ins Gesicht gezogen hatte, fragte sich seitdem, ob Jossele, wie Großvater ihn nannte, seinen Cousin wiedererkannt hatte von der kurzen Begegnung im Krankenhausflur. Oder ob er vielleicht das Bild in der Zeitung gesehen hatte.
    Dieses verfluchte Bild!
    Der alte Mann sprach jetzt so leise, dass Abe sich weit übers Bett beugen musste, um ihn zu verstehen. »Es ist bald so weit, Abraham«, sagte er. »Wir müssen Abschied nehmen.«
    Abe schwieg und drückte die Hand des Großvaters. Er empfand einen unbestimmten Schmerz, wenn er in dieses faltige Gesicht schaute, das bald nicht mehr würde zurückschauen können. Er fragte sich inzwischen, ob Jakob Goldstein nur deswegen an seinen Enkel in Amerika geschrieben hatte, damit der ihm diesen Wunsch erfülle. Ob der Großvater vielleicht doch ahnte, wer Abraham Goldstein wirklich war? Jedenfalls kein harmloser Textilhändler, der das florierende Geschäft seines Vaters übernommen hatte.
    Aus irgendeinem Grund fühlte er sich diesem alten Mann, den er vor fünf Tagen zum ersten Mal gesehen hatte, viel näher als seinem Vater über all die Jahre. Fast schämte er sich dafür, seinen Vater so wenig geliebt zu haben, nicht einmal geachtet, so wie er sich mittlerweile dafür schämte, auf seiner Beerdigung betrunken gewesen zu sein.
    »Versprich mir etwas!« Die alte, knochige Hand drückte die seine, erstaunlich kräftig, die Augen schauten ihn an, erstaunlich jung. Solch starke Augen in einem solch schwachen, verwelkten Gesicht, dachte Abe und beugte sich nach vorn, um die leise Stimme besser verstehen zu können. »Du musst das Kaddisch sprechen«, fuhr sein Großvater fort, »auf meiner Beerdigung. Versprichst du mir das?«
    Abe nickte, obwohl er nicht wusste, ob und wie

Weitere Kostenlose Bücher