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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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er dieses Versprechen einlösen sollte. Das Kaddisch beten, das er seit Ewigkeiten nicht mehr gesprochen hatte. Aber das war nicht das Problem, das Kaddisch gehörte zu den Dingen, die er niemals verlernen würde, die er sein Leben lang mit sich herumtragen würde, das immerhin hatte Vater mit seiner streng religiösen Erziehung geschafft. Das Problem war eher, dass er aus Berlin verschwinden musste, so schnell wie möglich, und eigentlich nicht geplant hatte, an der Beerdigung seines Großvaters teilzunehmen.
    Doch er hatte genickt, und der alte Mann hatte dieses Nicken gesehen, und es reichte ihm als Antwort. »Das ist gut«, sagte Jakob Goldstein und drückte die Hand seines Enkels noch fester. Und dann begann der Alte mit leiser werdender Stimme zu sprechen. » Schma Jisrael, Adonaj Elohejnu, Adonaj Echad. «
    Abe kannte auch diese Worte, die tief in seinem Inneren schlummerten, obwohl sie schon seit vielen Jahren nicht mehr über seine Lippen gekommen waren. Das taten sie auch jetzt nicht, innerlich aber betete er mit, obwohl er nicht an den glaubte, den er da anbetete.
    Sein Großvater schloss die Augen, als müsse er ausruhen von einer großen Anstrengung, und es war nicht auszumachen, ob es die Anstrengung des Sprechens war oder die Anstrengung eines ganzen gelebten Lebens. Das Gesicht sah mit einem Mal still und zufrieden aus, der Atem ging viel ruhiger. Das Morphium übernahm langsam die Kontrolle über diesen ausgemergelten Körper.
    Abe hielt die Hand seines Großvaters. »Lebe wohl, Seide«, sagte er, und der alte Mann schlug die Augen noch einmal auf.
    »Nicht Lebe wohl, auf Wiedersehen«, sagte Jakob Goldstein und lächelte. »Du wirst mich noch einmal besuchen. Du wirst das Kaddisch beten an meinem Grab. Du hast es versprochen.«
    Abe nickte, und sein Großvater schloss die Augen, das zufriedene Lächeln blieb auf dem Gesicht des alten Mannes, auch, als er längst aufgehört hatte zu atmen.
    Goldstein wusste nicht, wie lange er am Bett seines toten Großvaters gesessen hatte, dessen immer noch warme Hand in der seinen, als draußen auf dem Gang etwas Lautes schepperte und ihn aufschreckte. Ungewöhnlich, dass jetzt Krankenschwestern unterwegs waren. Um diese Zeit gönnten die sich normalerweise eine Pause, kurz bevor der Rummel wieder begann und das Abendessen auf die Zimmer verteilt wurde. Er ließ die Hand seines Großvaters los und ging zur Tür, öffnete sie vorsichtig und lugte durch den Spalt.
    Zwei Männer kamen den Gang hinunter, und einen davon kannte er.
    Verdammt!
    Detective Rath, diese hartnäckige Klette! Er hätte es wissen müssen, dass sie ihm irgendwann wieder auf die Spur kämen! Aber ausgerechnet heute! Ausgerechnet hier!
    Raths Begleiter musste an einen der Geschirrwagen gestoßen sein, die dort im Gang standen, in Reih und Glied, schon bereit für das Abendessen. Jedenfalls lag eine Teekanne auf dem Boden, und er bückte sich danach. Die Tür zum Schwesternzimmer öffnete sich, eine Furie in Weiß schoss hinaus auf den Gang und stellte die beiden Polizisten zur Rede.
    Abe schloss die Tür so leise, wie er sie geöffnet hatte, und kehrte zurück zum Krankenbett.
    Er steckte die leere Morphiumspritze ein, warf einen letzten Blick auf das friedliche Gesicht seines Großvaters und ging zum Fenster, öffnete es und schaute hinaus. Eine Art Laubengang zog sich um das ganze Gebäude. Abe schwang sich hinaus und blickte hinunter in den Hinterhof. Gerade war ein Krankenwagen vorgefahren, Fahrer und Beifahrer stiegen aus und öffneten die Hecktür. Einen Moment überlegte er ernsthaft, auf das Dach des Wagens zu springen, aber dann entschied er sich doch für das Regenfallrohr, das von der Dachrinne nach unten führte. Er kletterte über die Brüstung. Noch hatte ihn niemand entdeckt, nur ein älterer Patient, der gerade im Bademantel eine Runde durch die Grünanlagen machte. Aber der sagte keinen Ton, der guckte nur und staunte.
    Abe hatte das Rohr erreicht. Das Blech verbog sich zwar ein wenig bei der Kletterei, und er riss sich den Mantel auf, dann aber stand er nach wenigen Sekunden sicher unten auf dem Boden. Ein Blick hinauf zeigte ihm, dass die Bullen dort oben seine Flucht noch nicht bemerkt hatten. Dennoch durfte er keine Zeit verlieren, denn das konnte sich schnell ändern. Abe ging zum Krankenwagen hinüber, der im Leerlauf vor sich hin tuckerte. Die beiden Sanitäter hatten inzwischen eine Trage mit einem bewusstlosen Menschen aus dem Heck des Wagens geholt und strebten damit

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