Goldstein
auf der Straße, doch es war zu spät. Der Krankenwagen war längst außer Sichtweite.
Tornow trat gegen den nächstbesten Papierkorb. Es schepperte laut.
»Verdammt«, schimpfte der Kommissaranwärter, »alles meine Schuld! Dieser blöde Geschirrwagen. Der muss ihn gewarnt haben!«
»Wahrscheinlich weniger der Geschirrwagen als unsere liebe Schwester Rabiata«, meinte Rath. »Machen Sie sich mal keine Vorwürfe! Niemand konnte ahnen, dass Goldstein ausgerechnet jetzt gerade im Haus ist. Wir wollten einen Zeugen vernehmen, das war alles, keinen Flüchtigen jagen.«
»Tja, und dieser Zeuge lebt nicht mehr. Sieht so aus, als hätten wir beide heute unseren Glückstag.«
Dem hatte Rath nichts hinzuzufügen.
Im Präsidium sorgte die Nachricht, dass Abraham Goldstein wieder aufgetaucht war, für einige Aufregung. Wilhelm Böhm hatte Rath und Tornow gleich zum Rapport antreten lassen. Die Bulldogge schien die Schuldfrage eindeutiger zu sehen als Rath. Der Oberkommissar schob es weder auf Tornow und den Geschirrwagen noch auf die renitente Krankenschwester und noch weniger auf den Zufall, dass Goldstein just in diesem Augenblick im Haus gewesen war und hatte entkommen können. Er schob es der Einfachheit halber auf Gereon Rath.
»Verstehe ich das richtig?«, raunzte er Rath an. »Ist Ihnen da gerade zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage ein Mordverdächtiger entwischt?«
Rath wusste, dass es zwecklos war, sich Böhm gegenüber zu verteidigen; er versuchte es trotzdem. »Wir konnten nicht ahnen, dass sich der Verdächtige im Haus befindet«, sagte er. »Ich und der Kollege Tornow, wir hatten lediglich Hinweise, dass Goldstein im Jüdischen Krankenhaus schon einmal gesehen worden war. Und haben dann festgestellt, dass sein Großvater ...«
Böhm unterbrach ihn. »Welche Hinweise?«, fragte er. »Und warum weiß ich davon nichts?«
»Wir möchten den Herrn Oberkommissar nun nicht mit jedem einzelnen anonymen Anruf belästigen«, meinte Rath.
»Nicht mit jedem einzelnen. Aber mit den wichtigen.«
»Mit Verlaub, Herr Oberkommissar, aber den anonymen Anruf, auf den Sie hier anspielen, den habe ich entgegengenommen und nicht Kommissar Rath. Und ich stehe unter dem Kommando von Oberkommissar Kilian, Inspektion J, nicht unter dem Ihren.«
Tornow hatte das gesagt, und Böhm stutzte. Er war es nicht gewohnt, dass Subalterne sich einmischten, wenn ausgewachsene Kommissare sich unterhielten. Und in so einem selbstbewussten Ton schon gar nicht. Rath staunte ebenfalls, zeigte es aber nicht.
»Und überdies«, schickte der Kommissaranwärter noch hinterher, »wie wichtig so ein Anruf ist, stellt sich meist erst heraus, wenn man ihm nachgegangen ist, so auch in diesem Fall. Die Fahndung hat in den vergangenen Tagen zig Hinweise überprüft, mehr oder weniger alles falsche Hasen.«
Tornow hatte Böhm tatsächlich aus dem Konzept gebracht. Es dauerte einen Moment, ehe der Oberkommissar wieder sprechen konnte.
»Dann erzählen Sie doch mal, warum das Ganze so danebengegangen ist«, brummte er, was in seinen Kategorien schon eine Art Friedensangebot darstellte.
»Vom Pförtner wussten wir, dass ein Jakob Goldstein auf Zimmer einhundertzwei liegt«, sagte Rath. »Wie sich später herausstellte, der Großvater von Abraham Goldstein.«
»Und den wollten Sie befragen?«
»Richtig.«
»Haben Sie den Ami denn noch gesehen?«
»Als wir das Krankenzimmer betraten, war er schon verschwunden. Durchs Fenster auf den Hof. Und dann hat er einen Krankenwagen gestohlen.«
»Wie ist er denn verdammt noch mal gewarnt worden? Der hatte ja wohl nicht von Anfang an die Absicht, durchs Fenster zu verschwinden!«
Tornow wollte wieder etwas sagen, doch Rath kam ihm zuvor. »Zufall«, sagte er schnell, und der Kommissaranwärter machte seinen Mund wieder zu. »Vielleicht hat Goldstein gerade in dem Moment die Tür geöffnet, als wir auf den Gang traten. Und mein Gesicht kennt er; im Excelsior sind wir uns schließlich oft genug begegnet.«
»Er hat Sie erkannt«, grummelte Böhm und nickte. Wider Erwarten schien ihn diese Antwort zufriedenzustellen. »Das ist blöd, dass er Sie kennt, Kommissar Rath«, sagte er schließlich. »Bei künftigen Gelegenheiten, bei denen sich ein möglicher Zugriff ergeben könnte, sollten Sie sich im Hintergrund halten. Damit Goldstein nicht noch einmal gewarnt wird.«
Rath nickte demütig.
»Ist denn wenigstens bei der Befragung dieses Jakob Goldstein etwas herausgekommen?«, fragte Böhm.
»Leider nein.«
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