Goldstein
Die sich Zeit ihres Lebens geweigert hatte, die Sprache ihrer neuen Heimat zu sprechen. Abe hatte nie verstanden, warum sie überhaupt nach Amerika gegangen waren, seine Eltern, deren Leben sich auf so wenigen Quadratmetern abspielte, dass er sich fragte, warum sie dafür ein solch großes Land brauchten und solch eine große Stadt. Er hatte die Enge nie ertragen, schon als kleiner Junge die Wohnung so oft wie möglich verlassen. Als seineMutter dann im Sterben lag, hatte ihn das endgültig auf die Straße getrieben. Während die Mutter mit dem Typhus kämpfte und der Vater vergebliche Gebete gen Himmel schickte, hatte der Sohn sich immer häufiger mit Moe und dessen Jungs an der Williamsburg Bridge herumgetrieben; die respektierten ihn, auch wenn sie ein paar Jahre älter waren. Vater hatte ihn zu Freunden gegeben, dann in ein Heim, aber Abe hatte sich all diesen Versuchen entzogen. Moes Gang, das war seine Familie, eine andere brauchte er nicht. Mit vierzehn hatte Abe Goldstein sein erstes Geld verdient, an einem Tag mehr, als sein Vater in Wochen zusammenkratzte. Schon nach Mutters Tod, auf deren Beerdigung er das letzte Mal in der Synagoge gewesen war, hatten die Leute im Viertel begonnen, über ihn zu reden, noch mehr, als er dann zu Vaters Beerdigung betrunken auf dem Friedhof erschienen war, und sie redeten immer noch über ihn, mittlerweile aber mit Respekt. Das war das Einzige, was zählte.
Der Aufzug rauschte beinahe lautlos nach oben. Sie hielten zweimal, doch erst als der Liftboy den dritten Stock ausrief, setzte Page 37 den Gepäckwagen wieder in Bewegung. Die Suite 301 lag nicht allzu weit entfernt von den Aufzügen, einmal um die Ecke, und sie standen vor der Tür. Der Page schloss auf, und Goldstein trat ein. Schien so weit alles okay. Genau der Komfort, den man in dieser Preiskategorie erwarten konnte. Ein geräumiger, heller Wohnraum, große Fenster, die das riesige Bahnhofsdach zeigten, gleich davor ein großer Schreibtisch, an der Wand eine gemütliche Sitzecke mit Polstermöbeln, auf dem Tisch eine Obstschale, rechts eine Doppelflügeltür, die zum Schlafraum führte. Der Page hatte das Gepäck in den Raum gestellt und stand nun erwartungsvoll in der Tür, eine Handfläche dezent nach oben gedreht. Goldstein drückte dem Jungen eine Dollarnote in die Hand – er war immer noch nicht dazu gekommen, deutsches Geld einzutauschen – und wartete, bis der Page angenehmen Aufenthalt gewünscht und die Tür geschlossen hatte.
Als er endlich allein war, ging er ans Fenster und steckte sich eine Camel an. Über dem Bahnhofsdach türmten sich die Wolken, dennoch hatte sich die Sonne einen Weg gebahnt und leuchtete auf das Gewimmel vor den runden Backsteinbögen, aus denen sich Menschen drängten, mit und ohne Koffer, und Taxis heranwinktenoder der Bushaltestelle zustrebten und der Straßenbahn. Nun also war er in Berlin. Er pustete den Zigarettenrauch gegen die Scheibe und schaute auf die Stadt da draußen vor dem Fenster. Er wusste nicht genau, was ihn hier erwarten würde, und das erfüllte ihn mit Unruhe. Hatte er die weite Reise wirklich nur gemacht, um einen Mann zu sehen – womöglich sterben zu sehen –, von dem er eigentlich nur den Namen kannte, zu dem er nicht einmal ein Gesicht hatte?
Ein Geräusch ließ ihn aufschrecken. Das kam aus dem Schlafraum. Er drückte die Zigarette in den Aschenbecher und griff automatisch nach hinten in den Hosenbund, doch da steckte keine Waffe, er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt. Er nahm den Briefbeschwerer vom Schreibtisch und trat mit leisen Schritten an die Verbindungstür, den Bronzevogel zum Schlag bereit. Dass einer von Fat Moes Männern hier herumspukte, konnte er sich zwar nicht vorstellen, so weit reichte der Arm des Dicken dann doch nicht, aber bislang war Abe Goldstein immer gut damit gefahren, im Ernstfall ein bisschen vorsichtiger zu sein als die anderen. Langsam schob er seinen Kopf vor und lugte durch die halb geöffnete Tür in den Raum. An der Stirnwand stand ein riesiges Bett, überzogen mit einer champagnerfarbenen Satindecke und flankiert von zwei Nachttischen. Rechts neben der Frisierkommode führte eine Tür ins Badezimmer. Sie war geöffnet, und im Türrahmen erkannte er ein schön gerundetes Hinterteil, das ihm eine gebückte Gestalt in schwarzem Rock und weißer Schürze entgegenstreckte. Ein Zimmermädchen, offensichtlich nicht ganz im Zeitplan, jedenfalls war sie noch dabei, weiße Handtücher auf einer Ablage zu drapieren.
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