Goldstein
Vize, »er war nicht der Erste, er wird, so muss man beinah befürchten, auch nicht der Letzte sein. Wir rufen an diesem frischen Grabe erneut alle Volksgenossen auf, eine Front der Vernunft, der Anständigkeit, der Menschlichkeit zu bilden, die auch im Schutzpolizeibeamten den Menschen sieht und nicht das Freiwild, das man straflos jagen kann.«
Ähnliche Worte hatte Weiß auch im Präsidium benutzt, vor den Kollegen der Kriminalpolizei, doch hier, am Sarg des toten Beamten, wirkten sie hundertmal eindringlicher. Alle waren berührt, auch die Zivilisten; in der Trauergemeinde war ein unausgesprochenes Gefühl der Zusammengehörigkeit zu spüren. Ganz gleich ob Schutzpolizist, Kriminalbeamter oder einfacher Bürger, alle fühlten, dass sie hier gemeinsam ein Zeichen setzten gegen die Gewalt und den Terror auf der Straße. Berlin hatte die Nase voll von Kommunisten und Nazis und allen anderen, die Politik mit Wildwest-Schießereien verwechselten. Das ließ doch hoffen, dass Emil Kuhfeld für lange Zeit der letzte aus politischen Gründen getötete Polizist sein möge, dachte Rath. Vielleicht war diese Stadt doch nicht der hoffnungslose Fall, als den er sie gesehen hatte, seit er im Frühjahr 1929 hier angekommen war.
82
D as städtische Krankenhaus im Friedrichshain bildete so etwas wie eine eigene kleine Stadt aus eindrucksvollen Backsteinbauten am Rande des Volksparks. Andreas Lange öffnete die Tür zu einem dieser Gebäude, zur Männerabteilung der Chirurgie. Hier war vor anderthalb Jahren Horst Wessel in einem Krankenbett seinen Schussverletzungen erlegen, jener SA-Mann, den die Nazis dann zum Märtyrer gemacht hatten.
Er fand das Zimmer, das der Pförtner ihm genannt hatte. Ein Schupo wartete zusammen mit einem Weißkittel vor der Tür. Lange musste seinen Dienstausweis nicht zücken, die beiden hatten ihn bereits erkannt. Der Arzt und der Polizist begrüßten den Kriminalbeamten mit einem Nicken.
»Fünf Minuten«, sagte der Arzt, bevor er die Tür öffnete. »Und keine Aufregung. Die Wunde braucht Ruhe zum Heilen.«
»Ist die Verletzung so schwer?«, fragte Lange den Weißkittel.
»Der Junge hat unglaubliches Glück gehabt, dass sein Darm nicht verletzt worden ist.«
Der Kriminalassistent nickte und ging hinein. Auf dem Bett lag ein vierschrötiger Junge mit bleichem Gesicht. Der leidende Gesichtsausdruck stand ihm nicht besonders gut.
Lange zückte sein Notizbuch und setzte sich neben das Bett.
»Sie wollen eine Aussage machen, Herr Krahl?«, fragte er, und der Junge drehte den Kopf.
»Richtig, Herr Wachtmeister.« Die Stimme klang eigentümlich schwach.
»Kriminalassistent. Kriminalassistent Lange.«
»Ich hoffe, Sie finden die Nutte bald!«
»Bitte der Reihe nach. Was haben Sie mir zu sagen?«
Lange musste sich zusammenreißen. Er wusste, dass er hier am Bett eines polizeibekannten jugendlichen Kleinkriminellen saß, den man mit einer bösen Schnittwunde ins Krankenhaus eingeliefert hatte. Und wenn so einer freiwillig aussagte, dann war immer Vorsicht geboten. Über allem stand die Frage, warum jemand, der einem Polizisten sonst nicht einmal die Uhrzeit sagte, mit einem Mal so redselig war.
»Ich bin hier«, fuhr der Kriminalassistent fort, »weil die Kollegen mir sagten, Ihre Aussage hinge mit dem KaDeWe-Einbruch zusammen. Ich hoffe, das stimmt. Wenn ich merke, dass irgendjemand meine Zeit vergeudet, kann ich ziemlich unangenehm werden.«
»Alexandra Reinhold«, sagte der Junge schnell. »Das ist die, die Sie suchen. Die hat die Sache im KaDeWe gemacht.«
»Das wissen wir bereits.«
»Aber wissen Sie auch, wie gefährlich die Schlampe ist?«
Krahl schlug die Bettdecke zurück und zeigte auf einen festen Verband, in den man ihn gewickelt hatte wie eine Mumie, für die der Stoff nicht ganz gereicht hatte.
»Hat mir die Bauchdecke aufgeschlitzt, das Aas! Musste genäht werden!«
Lange horchte auf. »Das war Alexandra Reinhold?«
Krahl nickte. »Die ist gefährlich. Da sollten Sie aufpassen, Sie und Ihre Männer.«
Lange nickte geistesabwesend. Er war wenig geneigt, diesem Jungen zu glauben, dem der Wunsch zu denunzieren förmlich aus den Augen sprühte. Aber dann musste er an die Wunde im Gesicht von Jochen Kuschke denken und hielt die Aussage für gar nicht so abwegig. Diese Alex war gemeingefährlich. Und Charlotte Ritter tat so, als sei das Mädchen nur ein wenig von der richtigen Bahnabgekommen. Ob sie sich der Gefahr überhaupt bewusst war, die von Alex ausging?
»Wo haben Sie
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