Goldstein
starken, der Gereon geschmeckt hätte, den Charly aber kaum trinken konnte. Sie hatte sich nichts anmerken lassen und die pechschwarze Brühe gelobt. Und dann hatte Alex schließlich doch noch gesprochen.
»Wir werden Ihnen nicht lange zur Last fallen«, hatte sie gesagt, »wir suchen uns etwas Neues.«
»Ihr fallt mir nicht zur Last. Ihr könnt ruhig noch etwas bleiben.«
Alex hatte genickt, doch sie schien Charlys Angebot nicht wirklich annehmen zu wollen. Ob das ein Rest Misstrauen war oder einfach der Wunsch nach Unabhängigkeit – Charly wusste es nicht.
Sie würde sich einfach überraschen lassen. Entweder waren die Mädchen am Abend noch da – oder eben nicht. Sie hoffte nur, dass sie nicht auf dumme Gedanken kamen. So gesehen war es vielleicht ganz gut, dass sie Kuschke im Auge hatte. Falls Alex und Vicky irgendetwas aushecken sollten.
Da endlich tat sich was im Haus gegenüber. Die Haustür öffnete sich, und Jochen Kuschke trat aus der Tür. Etwas besser gekleidet als gestern und sogar rasiert. Auch den Verband hatte er erneuert, nur noch ein paar kleine Pflaster, deutlich dezenter als gestern. Die Wunde schien gut zu heilen. Zu seinem hellgrauen Anzug trug Kuschke einen breitkrempigen Hut und einen Regenschirm.
Charly wurde hektisch, faltete die Zeitung zusammen, hätte beinahe die Tasse umgeworfen, in der noch eine jämmerliche Pfütze kalten Tees schwappte, und stand auf. Sie legte das Geld auch diesmal wieder einfach auf den Tisch, bevor sie ihren Schirm aus dem Schirmständer zog und das Lokal verließ.
»Sie sollten über’n Abo nachdenken«, rief die Kellnerin ihr hinterher. »Wennses jeden Tag so eilig haben.«
Charly reagierte nicht mehr darauf, denn auch Kuschke hatte es eilig. Der Mann ging zum Winterfeldtplatz, den Schirm als Spazierstock nutzend. Sie folgte ihm unauffällig, blieb auf der anderen Straßenseite, schaute sich, sobald er langsamer wurde, am nächsten Schaufenster die Auslagen an, behielt ihn dabei aber immer im Blick. So langsam wurde sie wirklich zur Überwachungsexpertin. Vielleicht sollte sie doch beim Geheimdienst anheuern.
Ein paarmal schaute Kuschke auf seine Armbanduhr, schien eine Verabredung zu haben. Na , dachte Charly, vielleicht haben wir ihn doch aufgescheucht, wer weiß? Unwillkürlich tastete sie nach ihrer Pistole. Alles am Platz. Kuschke ging zur Straßenbahnhaltestelle. Wenigstens warteten hier schon ein paar Leute, sonst hätte Charly sich nicht allzu wohl gefühlt in seiner Nähe. Sie glaubte nicht, dass er sie bemerkt hatte, dennoch musste sie immer daran denken, dass dieser Mann einen fünfzehnjährigen Jungen auf dem Gewissen und am helllichten Tag mitten in der Stadt auf ein Mädchen geschossen hatte. Charly studierte den Fahrplan, während sie Kuschkes Pflastergesicht aus dem Augenwinkel im Blick behielt.
Dann rumpelte die Elektrische heran, die Linie 3, und Kuschke stieg ein, in den ersten Wagen; Charly sprang auf die letzte Plattform. Beide Wagen waren gedrängt voll.
Die Bahn zockelte in Richtung Norden, über den Nollendorfplatz und die Herkulesbrücke und dann durch den Tiergarten. Der Regen hatte aufgehört, wollte Kuschke spazieren gehen? Aber erst am Hansaplatz stieg der Mann aus, da hatten sie das Grün des Tiergartens schon wieder verlassen. Was wollte Kuschke hier, in einer eher feinen Wohngegend? Sollte ihr geheimnisvoller Zeuge hier irgendwo wohnen, der Mann mit der Brille, und Kuschke hatte längst dessen Adresse herausgefunden?
Charly sprang von der Plattform, tat wieder so, als werfe sie einen Blick auf den Fahrplanaushang an der Haltestelle, spielte das Mädchen vom Lande, und hielt Kuschke im Blick, der nun die Lessingstraße hinunterging, direkt auf die Kirche zu, die Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche am Rand des Tiergartens, die Charly noch gut von den sonntäglichen Spaziergängen mit ihren Eltern und den Brüdern in Erinnerung war. Auf dem Rückweg hatten sie immer bei Buchwald an der Moabiter Brücke eine Pause eingelegt, Kaffee und Kuchen, Kakao für die Kinder, und dann wieder nach Hause.Sie hatte diese Familiensonntage geliebt, eine Zeit lang jedenfalls. Charly folgte Kuschke in einigem Abstand. In diesem Viertel war auf den Straßen nicht mehr so viel los, sie musste aufpassen, dass er sie nicht doch noch bemerkte, und ließ sich ein wenig zurückfallen. Vor der Kirche bog er rechts ab in die Händelstraße, und Charly beschleunigte ihren Schritt wieder. Die Lessingstraße erschien ihr in diesem Moment unendlich
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