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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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genommen.
    »Ich denke, wir sind hier fertig«, sagte Lange und packte die Personalakten zurück. »Wollen Sie mir noch irgendetwas sagen?«
    Charly zuckte die Achseln. »Was sollte das sein?«
    »Zum Beispiel, wo wir Alexandra Reinhold finden können.«
    »Wenn ich das wüsste, dann wäre ich jetzt bei ihr, darauf können Sie wetten.«
    86
    J etzt kamen sie alle wieder heraus, die Sargträger voran. Na endlich! Jakob Goldstein lag in einem einfachen, schmucklosen Holzsarg, den die Männer behutsam geschultert hatten. Gleich darauf folgte die Familie, und Abe zog sich unwillkürlich etwas zurück, als er seinen schwarzbärtigen Cousin erblickte, senkte den Kopf und wandte sich ab, nicht zu viel, um nicht aufzufallen. Er war nicht mit hinein in die Trauerhalle gegangen, die ohnehin vollkommen überfüllt war. Sein Großvater schien ziemlich beliebt gewesen zu sein in der Gemeinde.
    Sie standen in der Nähe der Halle auf einem großen Gräberfeld. Während er mit den anderen auf das Ende der Zeremonien in der Trauerhalle wartete, hatte Abe sich das schlichte steinerne Ehrenmal angeschaut und die eingemeißelte Schrift auf dem weißen Stein gelesen: Ihren im Weltkrieg gefallenen Söhnen. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin . Der dämliche Krieg! Er hatte wirklich überall seine Spuren hinterlassen. Abe musste daran denken, wie seine Eltern angefeindet worden waren, vor allem von Iren und Yankees, lange vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Und das nur, weil sie Jiddisch sprachen und die dämlichen Paddys sie mit den Deutschen in einen Topf warfen, weil sie die Sprachen nicht unterscheiden konnten.
    Die Bäume hier auf dem Friedhof Weißensee standen dicht an dicht, dennoch hatte Abe dem Drang widerstanden, dort Schutz zu suchen. Hinter Baumstämmen oder Büschen kauernd wäre er früher oder später jemandem aufgefallen; da war die Menschenmenge ein besseres Versteck, auch jetzt, als sich der Trauerzug langsam in Bewegung setzte. Er hielt sich ziemlich weit hinten, entfernt von der Familie, bei den Männern seines Alters, unter denen er am wenigsten auffiel. Langbärtige Kaftanträger gab es eher wenige, die Familie seiner Tante Lea schien da eine Ausnahme zu sein.
    Immer wieder blieb der Trauerzug stehen, Abe mochte diese jüdische Sitte nicht, ein Symbol dafür, wie schwer der Gang zum Grab den Trauernden fiel. Er hasste alles, was die Trauer in die Länge zog. Er war ein Freund des schnellen Abschiednehmens.
    So dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis der Trauerzug das für Jakob Goldstein ausgehobene Grab erreicht hatte. Eine Stelle, die seinem Großvater gefallen hätte, dachte Abe, etwas abseits, nicht an einem der großen Hauptwege, im Schatten einer Mauer. Die Trauerrede fiel sehr kurz aus, auch das hätte Großvater gefallen, dann begann der Kantor einen Psalm zu singen, und der Sarg wurde langsam in die Erde hinabgelassen. Die Familie trat als Erstes ans Grab, jeder warf drei Handvoll Erde auf den Sarg. Abe erkannte die Leute aus dem Krankenzimmer, seine Tanten und ihre Familien. Alle hatten sie einen Riss im Kragen, zum Zeichen ihrer Trauer, nicht nur die aus der Schwarzhutfamilie. Auch diese Sitte hatte Abe immer gehasst. Seiner Mutter hatte er diesen Riss verweigert, seinem Vater, dessen Beerdigung er eher gestört als besucht hatte, sowieso. Rund ein Dutzend Männer traten an das offene Grab, darunter auch sein Schwarzhut-Cousin. Abe wusste, was nun folgte, und machte sich bereit. Während sich die Männer noch um das Grab gruppierten, trat er etwas abseits des Weges hinter einen der großen Familiengrabsteine im Schatten der Bäume. Für das, was er nun vorhatte, brauchte er keine Zuschauer, wollte er keine Zuschauer, vor allem keine Zuhörer. Er postierte sich so, dass er die Männer am Grab seines Großvaters genau im Blick hatte, und als sie ihr Gebet begannen, das alte, seit Jahrtausenden überlieferte Gebet, sprach er leise mit. Die hebräischen und aramäischen Worte kamen so geläufig über seine Lippen, ohne jedes Stocken, als habeer sie gestern erst auswendig gelernt, dabei war das schon fast zwanzig Jahre her. Abe sprach die Worte leise genug, um niemandem aufzufallen, aber so laut, dass Gott, sollte es ihn denn doch geben, sie auch hören konnte. Und sein Großvater, sollte dessen Seele jetzt unterwegs sein von einer Welt in die andere. So stand er da und kam sich nicht einmal blöd dabei vor, hinter einem jüdischen Grabstein zu stehen und das Kaddisch zu murmeln wie ein menschenscheuer

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