Goldstein
Norbert durch den mittleren Eingang. Er musste einen kleinen Vorraum durchqueren, ehe er ins Kirchenschiff gelangte. Rath sah die Weihwasserbecken und tunkte, ohne darüber nachzudenken, seine Fingerspitzen ins Wasser und machte das Kreuzzeichen. Er war schon ewig nicht mehr in einer Kirche gewesen, schon gar nicht in einer Messe, dennoch funktionierten die eingeübten Rituale seiner Kindheit immer noch. Einmal Katholik, immer Katholik, ob man nun an Gott glaubte oder nicht. Was seinen Glauben anging, da war Rath sich nicht immer ganz sicher, aber dass er katholisch war, ob er nun wollte oder nicht, daran hegte er keinen Zweifel.
Das spürte er jetzt wieder, der vertraute Geruch in einer katholischen Kirche, der überall auf der Welt gleich zu sein schien, überall auf der Welt ein Stück Heimat, ein Stück Kindheit. Vielleicht war das ja auch dasselbe, Heimat und Kindheit.
Langsam schritt Rath durch das Kirchenschiff. Er war allein, seine Schritte hallten von den weißen Wänden wider. Von MarionBosetzky fehlte jede Spur. Es war kühl in der Kirche, angenehm kühl, der Schweiß auf seiner Haut kühlte ab. Wo zum Teufel steckte die Frau? Rath schaute in die Beichtstühle – leer. Er warf sogar einen Blick in die Sakristei, doch auch dort war kein Mensch. Oben auf der Orgelempore? Jedenfalls musste sie noch in der Kirche sein, er hatte sie nicht hinausgehen sehen. Langsam stieg er die Treppe hoch, die in einem der Türme untergebracht war und zu den oberen Etagen führte, zu dem Gebäudetrakt direkt an der Straße. Das sah mehr nach Büro aus als nach Pfarrerswohnung. Neugierig schaute Rath sich um. War Marion Bosetzky in einem der Büros verschwunden? Stattete sie dem Pfarrer einen Besuch ab?
Er klopfte an eine der Türen. Niemand antwortete. Er drückte die Klinke hinunter, die Tür war unverschlossen, er öffnete sie einen Spalt und schaute hinein. Der Raum war ähnlich eingerichtet wie ihre Büros in der Burg, Schreibtisch, Telefon, Rollschränke, sogar eine Schreibmaschine auf einem kleineren Tisch am Fenster. Lediglich das große Kruzifix und die vielen Heiligen- und Madonnenbildchen ließen das Büro dann doch ein wenig anders aussehen als die im Polizeipräsidium. Statt des obligatorischen Hindenburg-Porträts hing hier ein Ölschinken an der Wand. Das Bild zeigte einen Heiligen in Prämonstratenserkluft, der eine Monstranz hielt und einen Kelch, aus dem eine Spinne krabbelte. Rath konnte sich dunkel an eine Geschichte erinnern, nach der der Heilige Norbert von Xanten einmal eine Spinne, die ihm in den Messkelch gefallen war, mit Todesverachtung und vor allem mit Gottvertrauen einfach mitgetrunken habe. Eine der vielen Heiligengeschichten, die sie ihm in der Kindheit eingebläut hatten. Er warf einen Blick durch eines der beiden rundbogigen Fenster. Unten auf der Mühlenstraße konnte er seinen Buick in der Sonne glänzen sehen.
Nein, außer einem Heiligen mit Spinnenkelch gab es hier nichts Besonderes. Rath verließ das Büro wieder. Auch an die Tür gegenüber klopfte er zunächst. Wieder keine Antwort. Der Raum, in den er nun trat, war dunkel. Er tastete nach dem Lichtschalter, aber noch bevor er den gefunden hatte, sprang ihn irgendetwas an.
Rath spürte einen Schlag am Kinn, der ihn nur deswegen nicht voll traf, weil er gerade den Kopf zur Seite gedreht hatte. Ein solcher Schlag auf die Kinnspitze hätte ihn wahrscheinlich außerGefecht gesetzt, so aber spürte er nur einen höllischen Schmerz im Unterkiefer und stürzte nach hinten gegen den Türrahmen. Sofort war die Gestalt, die ihn da aus dem Dunkel angesprungen hatte, bei ihm, setzte einen Schlag in die Magengrube nach, dass ihm die Luft wegblieb, und wollte an ihm vorbei, zur Tür hinaus, doch Rath hatte gerade noch so viel Geistesgegenwart, um dem Unbekannten ein Bein zu stellen. Und im Licht des Flurs draußen erkannte er, wer ihn da angefallen hatte.
Abraham Goldstein.
Rath blieb nicht viel Zeit, sich darüber zu wundern, dass Marion Bosetzky, die er hier hatte hineingehen sehen, verschwunden war, und er stattdessen auf Goldstein gestoßen war. Er versuchte, wieder zu Luft zu kommen und rannte hinter Goldstein her, der sich schnell wieder aufgerappelt hatte und nun die Treppe hinunterstürzte. Rath holte ein wenig auf, doch er hätte ihn nicht erwischt, wenn er nicht die halbe Treppe hinunter und genau auf Goldstein gesprungen wäre, der schon am Fuß der Treppe stand und sich gerade umschaute, kurz bevor Rath ihn erreichte und beide auf
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