Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
Vom Netzwerk:
damit, und schon stören sie nicht mehr das Straßenbild, die dreckigen Gören, die betteln und stehlen und dann auch noch das Maul aufreißen, wenn ein ordentlicher Bürger ihnen sagt, sie sollten doch arbeiten gehen, anstatt auf der Straße herumzulungern. Hatten die eine Ahnung, wie die Wirklichkeit aussah! Viel zu viele Menschen in dieser Stadt und viel zu wenig Arbeit. Mehr als genug zu fressen und viel zu wenig Geld, um es zu bezahlen. Was sollte man denn tun, wenn einen keiner mehr wollte? Von irgendwas musste der Mensch doch leben. Und auf den Strich gehen, wie es Vicky ab und zu schon mal getan hatte und auch einige andere, die sie kannte, das würde Alex niemals; allein die Vorstellung, dass solche Kerle wie Kralle oder noch viel schlimmere für Geld mit ihr machen konnten, was sie wollten, ließ sie wütend werden. Nein, einem solchen Kerl würde sie ihr Messer zeigen, wenn’s so weit wäre, sonst gar nichts. So konnte man sein Geld zur Not nämlich auch verdienen, das hatte sie schließlich schon mal gemacht, bei dem Fettwanst auf dem Weihnachtsmarkt, dem sie die Hosen zerschnitten und die Geldbörse abgenommen hatte. Dass es ihr Startkapital für ein Leben auf der Straße sein würde, hatte sie in jenen Tagen noch nicht gewusst.
    Vicky hatte aufgehört mit ihrem lautlosen Schluchzen und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel aus dem Gesicht. »’tschuldige«, sagte sie, »aber Benny ... Ich mochte ihn, weißt du?«
    »Klar weiß ich das. Ich mochte ihn doch auch.«
    »Ich fass es nicht! Ihr wart im KaDeWe!« Vickys Augen wurden noch größer, als sie ohnehin schon waren. »Aber dann suchen die Bullen nach dir, weißt du das?«
    »Die suchen einen Jungen.«
    »Du bist ja auch verletzt«, sagte Vicky und zeigte auf Alex’ bandagiertes Handgelenk.
    »Kleines Souvenir. Nichts Ernstes. Benny hat’s verbunden.«
    Vicky fragte nicht weiter nach, sie schien den Fetzen von Bennys Hemd erkannt zu haben. »Jetzt könnte ich wirklich eine gebrauchen«, sagte sie. »Hast du eine?«
    »Was?«
    »’ne Kippe. Ob du ’ne Kippe hast.«
    Alex holte die Blechdose mit den Manoli aus der Jacke. Eine einzige war noch drin.
    Vicky pfiff durch die Zähne. »Feines Kraut«, sagte sie. »Wo hast du die denn her?«
    »Hat Benny besorgt.«
    »Oh, das wusste ich nicht!« Vicky schaute erschrocken. »Kann ja kein Mensch ahnen. Die will ich dir nicht wegnehmen.«
    »Die müssen sowieso weg. Ich will sie nicht mehr sehen, diese blöden Zigaretten.« Alex drehte die Blechdose auf den Kopf und ließ die letzte Manoli in ihre Hand fallen. »Komm, wir teilen uns die«, sagte sie. Teilen. Wie sie es mit Benny immer gemacht hatte. Ein passendes Ende für diese Zigarette, die letzte, die er geklaut hatte.
    Vicky zückte eine Streichholzschachtel und gab ihr Feuer. Alex nahm zwei Züge und reichte die Zigarette dann weiter. Vicky zog gierig, erst nach dem zweiten Zug fing sie an, die Zigarette zu genießen. Schweigend saßen die Mädchen da und rauchten. Alex fühlte sich langsam etwas besser. Vor allem weniger allein. Die Trostlosigkeit, die sie beim Aufwachen erdrückt hatte wie eine schwarze, bleierne Bettdecke, die man nicht abschütteln konnte, war mit einem Mal verschwunden.
    »Wann wird er eigentlich beerdigt?«, fragte Vicky plötzlich in die Stille.
    »Beerdigt?« Daran hatte Alex noch überhaupt nicht gedacht. Benny war tot, aber dass seine Leiche noch irgendwo lag, irgendwo liegen musste, wahrscheinlich bei den Bullen, und dass er natürlich irgendwann auch beerdigt werden musste, das waren Dinge, die erst jetzt, mit Vickys Frage, in ihr Denken drangen. »Was weiß ich, wann er beerdigt wird«, sagte sie. »Ich kann doch nicht bei den Bullen reinspazieren und fragen. Die wissen doch wahrscheinlich gar nicht, wie er heißt. In der Zeitung stand nicht mal sein richtiges Alter.«
    »Und wie wollen sie ihn dann beerdigen? Einfach so ohne Namen und alles?«
    Alex zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Die werden das schon noch rauskriegen. Sind doch Bullen.«
    »Ja eben. Die Bullen, die ich kenne, sind für so was viel zu dämlich. Außerdem kümmert es die doch einen Scheißdreck, wenn sie einen von uns ohne Namen und Grabstein verscharren müssen.«
    »Du meinst, Benny kriegt nicht mal ein anständiges Grab?«
    »Was weiß ich. Wäre jedenfalls besser, sie wüssten seinen Namen, oder?«
    »Den Bullen seinen Namen verraten ... ist das nicht ... wie Verpfeifen?«
    »Quatsch mit Soße!« Vicky wirkte auf einmal sehr bestimmt. »Einer

Weitere Kostenlose Bücher