Goldstein
auf die Luger. »Ich rate dir, die Waffe fallen zu lassen, bevor ich sie dir aus der Hand schießen muss. Schon mal überlegt, wie umständlich und unbequem so ein Leben ohne rechte Hand sein kann?«
Die Panik in den Augen des Dicken wurde immer größer. Fliehen oder angreifen? Was war hier die richtige Entscheidung? Schließlich ließ er die Luger sinken, machte kehrt und lief davon.
»Einen schönen Scharführer hast du«, sagte Goldstein zu dem wimmernden Gerd, der immer noch um ein paar Zehen trauerte. »Lässt euch hier alle im Stich!«
Stefan ließ ein Stöhnen hören und fasste sich mit der Hand langsam an die blutige Nase. Als er sie erreichte, schrie er laut auf und war sofort wieder bei Besinnung. Auch der Dritte kam langsam wieder zu sich.
Alle drei starrten ihn an, Gerd, der Totschläger mit dem zerschossenen Fuß, hatte inzwischen sogar Tränen in den Augen und machte ein ziemlich verkniffenes Gesicht.
»Ich weiß nicht, was ihr denkt«, sagte Goldstein, »vielleicht, dass das hier ein Picknick ist oder was. Aber da irrt ihr euch. Noch seid ihr alle mit ein paar blauen Flecken davongekommen ...«
»Blaue Flecken?«, jammerte Gerd. »Mein Fuß!«
»... aber ich rate euch: Seht zu, dass ihr schleunigst hier wegkommt, bevor ich es mir noch anders überlege.«
Stefan und der andere Uniformierte rappelten sich auf, Stefan warf noch einen kurzen Blick auf den Fußlahmen, dann liefen sie davon, jeder in eine andere Richtung.
Goldstein stellte sich vor Gerd auf.
»Hörst du mit den Füßen? Das gilt auch für dich.«
Der Mann mit dem Schlagring jammerte. »Mit meinem Fuß? Wie soll ich da gehen?«
»Ist mir scheißegal. Versuch’s mit Hüpfen oder Kriechen.« Die Weinerlichkeit ging Goldstein langsam auf die Nerven. Eben war Klein Gerd noch bereit gewesen, ihm mit dem Schlagring den Kiefer zu zertrümmern, und nun führte er sich auf wie ein Erstklässler, der auf dem Schulhof gerade den Ernst des Lebens kennengelernt hatte. Er zeigte der Heulsuse die Remington. »An deiner Stelle würde ich jedenfalls verschwinden, wenn du nicht noch einen Fuß riskieren willst, Arschloch.«
Der Mann stieß einen lauten Schmerzensschrei aus, als er das erste Mal mit dem linken Fuß auftrat. Dann verlagerte er das Gewicht auf die Ferse, und es schien zu funktionieren. Langsam humpelte er dem Lichtkegel entgegen, bis er am Weg angekommen war. An einer Parkbank stützte er sich kurz ab, bevor er weiterhumpelte.
Goldstein ging zu dem alten Juden hinüber und reichte ihmseinen schwarzen Hut. Der Alte sah zwar etwas lädiert aus, unter seinem weißen Bart wuchs ein dicker Bluterguss, aber im Großen und Ganzen hatte er die Sache gut überstanden.
Goldstein streckte ihm die Hand entgegen.
»Komm, steh auf, Väterchen«, sagte er und half dem erstaunlich leichten Mann wieder auf die Beine. Der klopfte sich Dreck und Grashalme vom Kaftan und schaute seinen Retter an wie den Messias, gleichermaßen ungläubig wie bewundernd.
»Damit wir uns gleich verstehen«, sagte Goldstein: »Mich gibt es gar nicht, Sie haben mich niemals gesehen!«
»Na, schon hab ich Se gesehn!« Der alte Mann schien nicht richtig zugehört zu haben. »Se stehn doch hier.«
»Aber ich bin eigentlich ganz woanders.«
»Se sind hier und doch woanders? Wer sind Sie?«
»Für Sie meinetwegen der Erzengel Michael, wenn Sie unbedingt einen Namen brauchen. Also, noch einmal von vorn: Das hier ist nie passiert! Ihnen ist nichts passiert. Ich bringe Sie jetzt nach Hause zu Ihrer Familie, und dann vergessen Sie die ganze Geschichte, ja?«
»Ich danke Ihnen sehr«, sagte der alte Mann. »Aber Se hätten nicht dirfen schießen.« Er schüttelte den Kopf. »Schießen ist Unrecht.«
Goldstein sagte nichts mehr. Mit jüdischen Sturköpfen dieses Kalibers zu diskutieren, das war vergeudete Zeit, das wusste er aus Erfahrung. Er bot dem Alten seinen Arm und führte ihn zum Kiesweg.
»Soll ich Ihnen erzählen die Geschichte vom alten Rebbe Zannowitsch aus Lubowitz?«, fragte der Alte und wartete eine Antwort gar nicht erst ab. Goldstein verdrehte die Augen und hörte zu. Wahrscheinlich hatte er die Geschichte sogar schon einmal gehört, vor vielen, vielen Jahren.
34
D er neue Monat begann mit Gedränge. Weiß hatte die höheren Ränge der Kriminalpolizei, also alles ab Kommissar aufwärts, in den großen Konferenzsaal gebeten. Rath kam diese Order eigentlich ganz recht, er hatte Gräf Kiries Leine in die Hand gedrückt, den Kriminalsekretär ins Excelsior
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