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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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geschickt und sich selbst in der Kantine noch einen Kaffee gegönnt. Und nun stand er in der Traube, die sich vor dem Eingang des Saals gebildet hatte; einige bekannte Gesichter aus der Inspektion A waren darunter, Wilhelm Böhm zum Beispiel, mit frischer Urlaubsbräune. Rath hätte dem bulligen Oberkommissar durchaus noch ein paar Tage Urlaub mehr gegönnt, eigentlich sogar einen vorzeitigen Ruhestand bei vollen Bezügen, doch Bulldogge Böhm hatte sich diese Woche pünktlich wieder zum Dienst gemeldet. Rath hielt sicheren Abstand und blieb in der Nähe einiger Rauschgiftfahnder, die gerade über Arthur Nebe lästerten, ihren ehemaligen Chef, den Weiß vor wenigen Wochen erst zum Leiter des Raubdezernats gemacht hatte. Der strebsame Nebe war nicht gut gelitten im Kollegenkreis, er galt als Zögling von Bernhard Weiß, und Menschen, die – angeblich oder tatsächlich – von irgendeinem Häuptling protegiert wurden, hatten es nicht leicht in der Burg. Davon konnte Rath, der bei seinem Einstand als Liebling des damaligen Polizeipräsidenten Zörgiebel gegolten hatte, ein leidvolles Lied singen.
    Nach und nach schoben sich die Rauschgiftfahnder durch die Doppelflügeltür, und Rath gelangte mit ihnen in den Saal, suchte sich einen Platz in den hinteren Reihen und setzte sich. Die Luft war bereits zum Schneiden dick, die meisten Kollegen verkürzten sich die Wartezeit mit einer Zigarette, und niemand war auf die Idee gekommen, ein Fenster zu öffnen. Rath folgte dem Herdentrieb und der Gewohnheit und riss eine neue Packung Overstolz auf. Er roch am frischen Tabak, bevor er die Zigarette ansteckte, und musste an den gestrigen Abend denken, der schließlich damit geendet hatte, dass sie rauchend in seiner Wohnung am Luisenufer gesessen hatte, erschöpft und resigniert, nach langen Stunden vergeblichen Adressenabklapperns. Natürlich hatte Charly das Mädchen nicht gefunden, obwohl sie ihre Liste tatsächlich komplettabgearbeitet hatte. Über eine Stunde hatte Rath in der Wohnung auf sie warten müssen und schon begonnen, sich Sorgen zu machen, als sich endlich der Wohnungsschlüssel im Schloss drehte und kurz darauf ihr enttäuschtes Gesicht in der Tür erschien. Rath hatte sie auf den nächsten Tag vertröstet, Charly mit einem müden, abgekämpften Nicken geantwortet. Doch sein Anruf bei der Jugendfürsorge gleich nach dem Aufstehen, von dem er sich tatsächlich etwas versprochen hatte, war vergeblich gewesen und hatte sein schlechtes Gewissen nicht beruhigen können. Dass Charly, müde und resigniert, wie sie war, seinen fadenscheinig dünnen Ausreden auch noch Glauben schenkte, hatte ihn beinah mehr beschämt als die Ausreden selbst. Eine einzige Familie Reinhold auf seiner Liste hatte er besucht und von einer empörten Frau zu hören bekommen, dass sie keine Tochter namens Alex oder Alexandra habe. An vier weiteren Adressen, so hatte er Charly erklärt, und sie hatte es geglaubt, habe ihm niemand geöffnet.
    Und dann war seine nicht abgearbeitete Liste heute Morgen für sie zur letzten Hoffnung geworden. Beinahe dankbar hatte sie die Seite, Zeugnis seiner Pflichtvergessenheit, aus seinem Notizbuch gerissen. Er hatte nichts weiter dazu gesagt, vor allem nicht seine wahre Meinung. Für wie aussichtslos er ihre Suche hielt.
    Das Tuscheln, das den großen Konferenzsaal erfüllte, wurde mit einem Mal dünner und versickerte schließlich ganz. Rath schaute auf. Der Vizepolizeipräsident war aufs Podium getreten, mit ernster Miene. Rath warf seine Zigarette auf den Steinboden und trat sie mit der Schuhspitze aus. Doktor Weiß hielt sich am Rednerpult fest und wartete. Erst als es ganz ruhig geworden war im Saal, erhob er seine Stimme.
    »Ich habe Sie hier zusammenkommen lassen«, begann er und schaute sich um, »aus einem ebenso aktuellen wie traurigen Anlass. Die meisten von Ihnen werden schon davon gehört haben.«
    Und dann schilderte Weiß die gestrigen Zusammenstöße auf der Frankfurter Allee, was aus seinem Mund sachlicher und nüchterner klang als bei Charly. Und natürlich verlor er kein Wort über ein Straßenmädchen, das den Tumulten und ihren Folgen letztendlich die Flucht aus dem Amtsgericht Lichtenberg verdankte. Weiß zählte einfach die Fakten auf: eine Arbeitslosendemonstration mitten in einer Kommunistengegend; plötzlich kippt die Situation, eine Salve von vierzig Schüssen empfängt die vorrückende Polizei, ein Oberwachtmeister, der in der ersten Polizeikette gegen die Demons­trierenden stürmt, wird

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