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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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und tiefer, bis ich in das Fenster einer Hütte schauen konnte. Ich sah Tante Schejndl in einem Bett liegen, und Dwore, ihre Nichte, hielt ihr ein Schüsselchen mit Suppe hin.
    »Hier, Tantchen«, sagte sie liebevoll. »Hast du gut geschlafen?«
    Tante Schejndl seufzte und lächelte traurig. »Der Herr möge es dir danken, was du für mich tust, Dworele«, sagte sie leise. »Der Schlaf bringt mir keine Erholung mehr, ich merke, dass mein Ende nicht mehr weit ist, dass der Ewige, gelobt sei er, mich in die andere Welt ruft, und ich bin leichten Herzens bereit dazu. Ich hätte nur so gerne die Kinder noch einmal gesehen, nur noch ein einziges Mal.«
    Mir traten die Tränen in die Augen. »Hier bin ich, Tante Schejndl, liebe, gute Tante Schejndl«, rief ich. »Schau her, hier bin ich, vor dem Fenster.« Ich klopfte ans Fenster, doch obwohl ich das Holz des Rahmens unter meinen Händen spürte, hörte ich keinen Ton. Auch Tante Schejndl hörte mich nicht, auch als ich immer wieder ihren Namen rief und nicht aufhörte zu klopfen.
    Ich sah, wie sie sich ein paar Tränen von den Wangen wischte. »Ich habe wieder von ihnen geträumt«, sagte sie. »Ich habe geträumt, dass es Jankel nicht gutgeht und er sich Sorgen macht, und es tut mir weh, dass ich ihm nicht helfen kann. Ich hätte sie nicht wegschicken dürfen, Dworele, was soll ich zu ihrem Vater sagen, wenn er kommt und sie von mir zurückfordert?«
    »Er wird sie nicht zurückfordern«, sagte Dwore sachlich, »dazu ist zu viel Zeit vergangen. Und wenn er doch noch kommen sollte, was ich nicht glaube, dann wirst du zu ihm sagen, dass du sie nach Prag geschickt hast, zu ihrem Onkel, dem Rabbi Juda Löw ben Bezalel. Und jetzt iss, damit du wieder zu Kräften kommst.«
    Wieder lächelte Tante Schejndl dieses traurige Lächeln, und dann sah ich, wie Dwore sie fütterte, so wie Tante Schejndl mich während meiner Krankheit gefüttert hatte und wie sie Rochele gefüttert hatte, als sie noch klein gewesen war. Ich sah es und eine tiefe Dankbarkeit erfüllte mein Herz. Dwore, der Ewige möge es ihr ins Buch des Lebens schreiben, sorgte gut für Tante Schejndl.
    »Leb wohl, Tante Schejndl«, rief ich, »leb wohl, ich werde dich nie vergessen, und ich werde Rochele immer wieder von dir erzählen, damit sie dich auch nicht vergisst.« Doch da hob mich Josef auch schon wieder hoch in die Luft, setzte mich auf seine Schultern, trug mich über Wälder und Felder zurück und ließ mich sanft auf die Bank vor dem Lehrhaus sinken.
    Ohne die Augen zu öffnen, tastete ich nach seiner Hand. »Josef«, sagte ich, »Josef.« Und er legte seine schwere, haarlose Hand auf meine.
    J ankel schlug die Augen auf. Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und verbarg ihre Wärme, ein Frösteln lief ihm über den Rücken. Von der Moldau herauf drang das Geschrei von Möwen. Josef saß neben ihm, mit offenen Augen, und schaute ihn an. Als Jankel aufstand, erhob er sich ebenfalls. Bis zu Mendels Haus lief er neben ihm her, bis zum Torbogen, der zur Backstube führte, dort wandte er sich ab und Jankel sah nur noch seinen breiten Rücken.

19. Kapitel
Der Todesengel
    K ein Gewitter kommt aus heiterem Himmel, und kein Unheil wird geboren, ohne dass Bosheit mit ihm schwanger gegangen wäre, jeder, der Ohren hatte zu hören und Augen zu sehen, hätte es vorausahnen können. Aber es zeigte sich, dass die Freude über das kaiserliche Dekret und die Hingabe an die großen Feiertage die Ohren der Juden taub gemacht hatte für das Raunen und ihre Augen blind für das Menetekel an der Wand, denn ein paar Tage nach dem Neujahrsfest geschah es, ohne dass jemand damit gerechnet hatte.
    Der Junge wurde wach, als Jente ihn schüttelte. »Schnell! Schnell!«, rief sie mit einem Gesicht, das grau war vor Angst oder grau vom Dämmerlicht, das durch das Fenster hereinfiel. Jankel, noch schlaftrunken, starrte sie an, ohne zu begreifen, was sie von ihm wollte. Sie hörte nicht auf, ihn zu schütteln, und ihr Gesicht wurde noch grauer, als sie keuchte: »Die Judenhasser, sie kommen, Gott stehe uns bei…«
    Jankel warf den Schlaf noch schneller von sich als die Decke, die ihn des Nachts wärmte, er sprang in seine Kleider und befreite sich mit einem heftigen Schütteln des Kopfs von den Bildern der Nacht. Jente hatte seine Kammer schon verlassen, er hörte sie in der Küche rumoren, Türen und Schubladen wurden aufgerissen und zugeschlagen, Gegenstände knallten aneinander, Löffel klirrten, etwas Schweres, offenbar ein

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