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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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heißen Stein gelegt hat, tastete sich mit weichen Knien weiter, und als seine Hand eine unverschlossene Tür fand, drückte er sie auf und verschwand in einem Flur. Am anderen Ende erblickte er ein Fenster, durch das dämmriges Licht hereinfiel. Er rannte darauf zu, riss es auf, sprang hinaus und fand sich in einem engen, dunklen Hinterhof wieder, genau vor einem niedrigen Schuppen, an dessen Seitenwand Holzscheite aufgeschichtet waren. Nirgendwo war eine Tür zu entdecken. Er wusste nicht, was er tun sollte, deshalb kletterte er auf die Holzscheite und von dort hinauf auf das Dach. Auf der anderen Seite rutschte er hinunter und landete in einer Gasse, die ihm sehr fremd vorkam. Ein Mann lief an ihm vorbei, auf jedem Arm ein Kind, und seine Frau, die einen weinenden Säugling trug, folgte ihm so hastig, dass ihre weiten Röcke flatterten.
    I ch wusste nicht mehr, wo ich war, aber der im Osten heller werdende Himmel zeigte mir die Richtung. Ein Mann kam aus einem Haus gerannt, huschte in ein anderes, an sonsten war ich allein auf der Gasse, aber das Bild Reb Naftalis, der auf dem Pflaster lag und sich unter den Stiefeltritten krümmte, stand mir noch vor Augen und der Schrei seiner Frau hallte mir noch in den Ohren, es trieb mich weiter, weg von dort, ich wollte nicht mehr sehen, was sie taten, ich wollte es nicht hören. Aber das Geschrei und Gejohle in meinen Ohren wurde lauter, obwohl keine Angreifer zu sehen waren, es wurde so laut, als wären sie genau neben mir, als könnten mich ihre Hände jeden Moment packen, als könnten sie gleich anfangen, mich mit ihren Stiefeln zu treten. Die Angst verwirrte meinen Geist und trieb mich durch die nächste offene Tür in ein Haus, ich rannte zu einem Hinterzimmer, riss die Tür auf und blieb erschrocken stehen.
    Ein alter Mann saß auf einem Stuhl, er hatte die Tefillin angelegt und sich in seinen Tallit gehüllt. Vor ihm stand ein jüngerer Mann, vermutlich sein Sohn, und flehte ihn an, mitzukommen oder sich wenigstens im Schrank oder unter dem Bett zu verstecken. Aber der Alte brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Geh weg, ich will beten«, sagte er. »Versteck dich, wenn du dich verstecken willst, aber ich sage dir: Vor dem, was der Ewige dir bestimmt hat, kannst du dich nicht verstecken. Ich gebe mich in seine Hand, und wenn er will, dass ich vor ihn trete, dann werde ich das in Würde tun.« Und tatsächlich strahlte er ebenso viel Würde aus wie sein Sohn Verzweiflung.
    »Es tut mir leid«, sagte ich und rannte, ohne mich um ihre erstaunten Blicke zu kümmern, zum Fenster, riss es auf und sprang hinaus. Auf einmal fiel mir ein, wer der Alte war, Reb Menachem, Vorsteher der Hohen Synagoge, deshalb wusste ich wieder, wo ich war. Ich mied die Gassen, ich rannte durch Höfe und Häuser, kletterte über Mauern und Schuppen, scheuchte Katzen und Hühner auf und trat nach einem Hund, der mich erst wütend anbellte und dann, nachdem ihn mein Fuß getroffen hatte, mit eingezogenem Schwanz zurückwich. Ich zwängte mich durch schmale Lücken in Zäunen und erreichte endlich den Hof mit den altersschwachen, dicht aneinandergeschmiegten Häusern.
    J ankel blickte sich um. Hier war es nicht so leer wie draußen auf den Gassen, aber auch hier war die Angst zu spüren, die über der Judenstadt hing wie giftiger Dunst. Menschen rannten hin und her, ein Mann trug eine alte Frau zu einem Schuppen, zwei andere vergruben Gegenstände in einem Gärtchen, Katzen schlichen herum und irgend wo in einem Stall krähte ein Hahn. Auch im Haus Jizchaks herrschte große Aufregung. Frume, den Säugling auf den Rücken gebunden, beruhigte Jossele, der schrie, er wolle nicht zur Ziege in den Stall, die Mädchen drückten sich verschreckt in eine Ecke, während Jizchak und Schajke, sein ältester Sohn, versuchten, einen Schrank und eine Kommode so zurechtzurücken, dass dahinter ein Versteck entstand.
    »Ich nehme Rochele mit«, schrie Jankel ihnen zu, er wartete nicht auf eine Antwort, er packte seine kleine Schwester an der Hand und zog sie mit sich.
    U nd plötzlich war es wieder wie früher, wir waren allein, Rochele und ich, wir waren aufeinander angewiesen, sie folgte mir, wie sie mir früher gefolgt war, ohne sich noch einmal nach dem Haus umzuschauen, in dem sie nun schon so lange gelebt hatte, es war wieder wie in Mo ř ina, wie auf unserem langen Weg nach Prag. Ich hielt sie fest an der Hand und zog sie hinter mir her, ich wollte zurück, zum Haus Rabbi Löws, ich wollte zum

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