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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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unversehrt zurückkehren …« Ihre Stimme brach und erstarb in lautem Schluchzen, doch da hatte Jankel schon die Tür aufgerissen und stand auf der Straße, in der kalten, grauen Dämmerung des frühen Morgens.
    D er Todesengel flog über Prag und der Schatten seiner Flügel fiel auf die Judenstadt, ich meinte den Luftzug zu spüren, wenn er sie bewegte. Ich war wie von Sinnen, ich konnte nur an eines denken, Rochele, ich muss meine Schwester holen, ich muss sie beschützen. Frume und Jizchak haben sechs Kinder, darunter einen Säugling, sie werden sich nicht um das fremde Kind kümmern, sie können es gar nicht, das ist meine Aufgabe, meine Verantwortung, dazu bin ich geboren worden, das ist es, wozu der Ewige mich bestimmt hat, Rochele zu beschützen, Rochele, für die meine Mutter ihr Leben gegeben hat.
    J ankel wunderte sich, wie viele Leute auf der Gasse waren, Schatten huschten vorbei, wurden von Häusern verschluckt und wieder ausgespuckt, unterdrückte Rufe waren zu hören, Gepolter, Krachen und wieder Rufe wie »Schneller!« und »Pass auf!« und »Hierher!«.
    Seine Augen durchdrangen das Dämmerlicht, und er erkannte, dass Leute dabei waren, Eingänge zu Höfen und Gässchen mit Möbelstücken zu versperren, einige rannten herum und brachten immer neue Gegenstände aus Gewölben und Häusern, andere stellten sie aufeinander und versuchten, sie so zu verkeilen, dass kein Angreifer mehr durchkam. Und er sah Männer, es waren vor allem junge, kräftige, die sich mit Keulen und Eisenstangen bewaffneten, die sie aus dem Gewölbe des Alteisenhändlers holten, und der Wunsch schoss ihm durch den Kopf, sich ihnen anzuschließen. Aber seine Aufgabe war eine andere, er rannte weiter und schaffte es gerade noch, durch eine Absperrung zu schlüpfen, bevor sie hinter ihm geschlossen wurde.
    Vor der Friedhofsmauer bog er nach Nordosten ab, in das Gewirr der winkligen Gassen und Gässchen, da fühlte er sich sicherer. Bis er plötzlich unten, am Ufer der Moldau, Männer mit Stangen hantieren sah. Er wusste nicht, ob es Flößer waren, die ihre Last abluden, es war in der Dämmerung nicht zu erkennen, es war auch nicht zu verstehen, was sie sich mit ihren rauen Stimmen zuriefen, aber es klang bedrohlich, und ihre Stangen zeichneten schwarze Striche in den heller werdenden Himmel, geheime Schriftzeichen, die nur ein Wissender zu lesen vermochte.
    Jankel drehte sich um, bog in eine andere Gasse ein. Er rannte im Schatten der Häuser, getrieben von Angst und Sorge um seine kleine Schwester. Er rannte und rannte, und jedes Mal, wenn er in der Ferne Menschen sah, Gestalten, die vielleicht Angreifer sein könnten, bog er ab. Er wusste schon nicht mehr, wo er war, und stellte irgendwann entsetzt fest, dass er im Kreis gelaufen war.
    Laute Stimmen drangen an sein Ohr, und plötzlich tauchten in der Dämmerung vor ihm Männer auf, dunkle Schemen im Schatten der Häuser. Es waren nicht viel mehr als ein halbes Dutzend, und sie torkelten, als hätten sie Branntwein getrunken, grölend und schreiend schwangen sie Stöcke und Keulen, einer hatte sogar eine Axt in der Hand. Jankel drückte sich an die Hauswand, so fest, dass er die Kanten der Bretter durch die Kleidung spüren konnte, und rührte sich nicht, er versuchte, mit der Dunkelheit zu verschmelzen und unsichtbar zu werden.
    Die Männer stürzten sich auf die Tür eines Gewölbes, Holz krachte und splitterte, und Jankel verstand, dass die Männer sich auskannten in der Judenstadt, denn der Laden, in den sie eindrangen, gehörte Reb Naftali, dem Silberschmied. Ihr Johlen wurde lauter, Jankel ahnte, dass sie sich jetzt die Taschen vollstopften, er hörte es an der Begeisterung in ihren Stimmen, doch dann mischte sich in ihr überschwängliches Gejohle ein Schrei des Entsetzens, und Jankel fing an zu zittern, als er sah, wie drei von ihnen Reb Naftali aus dem Laden stießen und grob auf ihn einschlugen. Reb Naftali stöhnte und brach zusammen, aber das reichte ihnen nicht, sie traten auf ihn ein, ihre Stiefel trafen ihn an Kopf, Bauch und Rücken, sie hörten nicht auf zu treten. Und aus dem Gewölbe war die Stimme einer Frau zu hören, eine flehende Stimme, die aber bald erstarb.
    Die Angst schoss wie ein Blitz durch Jankels Körper und ließ ihn steif werden, doch ein verzweifelter Aufschrei von Reb Naftalis Frau, einer schönen, jungen Frau, riss ihn aus der Erstarrung. Er warf noch einen Blick auf Reb Naftali, der am Boden lag und sich krümmte wie ein Wurm, den man auf einen

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