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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Eisentopf, fiel laut scheppernd zu Boden, ein Stuhl krachte um, und als Jankel in den Flur trat, sah er sie aus der Küche kommen. Sie hielt mit beiden Händen zwei Zipfel ihrer Schürze und trug darin Silberzeug, Kerzenständer, einen Chanukkaleuchter*, Kidduschbecher, die Bessamimbüchse* für die Hawdala*, aber die Kultgegenstände, die sonst im Kerzenlicht schimmerten, waren jetzt, in der kalten Morgendämmerung, stumpf und glanzlos.
    »Hilf deinem Onkel!«, rief Jente, als sie an ihm vorbeirannte, erst die Treppe hinauf, dann über die Stiege zum Dachboden.
    Die Tür zum Studierzimmer stand offen, die Kommode war zur Seite gerückt und gab die Öffnung zu einem Versteck in der Wand frei, vor dem der Rabbi auf dem Boden kauerte.
    Mit einem Satz war Jankel bei ihm und sah, dass sein Onkel Bücher in die Öffnung schob. »Lass mich das machen«, stieß er hervor.
    Der Rabbi erhob sich mühsam und mit knackenden Gelenken und Jankel kniete sich auf den Boden. Es war noch so dämmrig, dass er die Umrisse der Bücher kaum erkennen konnte, aber der Rabbi bewegte sich sicher durch den Raum, wählte, ohne zu zögern, diejenigen aus, die ihm die teuersten waren, und reichte sie Jankel, der sie in das Versteck schob. Es war geräumiger, als er auf den ersten Blick angenommen hatte.
    »Man weiß nie, wie so etwas endet«, sagte der Rabbi leise. »Manchmal sind es nur ein paar vereinzelte Judenhasser, die bei uns eindringen, dann wieder sind es Dutzende oder Hunderte. Manchmal geben sie sich damit zufrieden, zu stehlen, was sie haben wollen, das sind dann Diebe und Räuber. Oder sie wollen zerschlagen und zerstören. Und manchmal wollen sie Blut sehen und sind auf Mord und Totschlag aus, das sind dann die Judenschlächter. Und weil wir nie wissen können, was uns erwartet, müssen wir uns vorbereiten, verstehst du?«
    Jankel nickte.
    »Ich habe es in meinem langen Leben zu oft mitgemacht«, fuhr der Rabbi fort. »Ich habe schon zu viele Tote gesehen.« Dann schwieg er.
    Jankel schwieg auch, er wusste nicht, was er sagen konnte, vielleicht gab es ja auch nichts zu sagen. Die Geräusche, die von draußen hereindrangen, erfüllten seine Ohren. Er hörte Jente die Treppe hinunterrennen, er hörte Tante Perl, die im Haus herumlief, laut Psalmen beten, und er hörte vor allem die Rufe, die von der Gasse heraufdrangen, Rufe des Entsetzens, die von Haus zu Haus flogen. »Sie kommen von der Altstadt! … Nein, sie kommen von der Teinkirche! … Nein, von der Moldau! … Vom Stadtplatz!« Die Rufe gingen durcheinander, die einzelnen Stimmen waren nicht zu unterscheiden, doch allen gemeinsam war die Angst.
    »Genug«, sagte der Rabbi leise und verschloss die Öffnung mit einem passenden Brett in der Farbe der Wand, sodass nichts mehr zu erkennen war, dann schoben sie die Kommode wieder an ihren Platz.
    »Und wenn sie Feuer legen?«, fragte Jankel und deutete auf die Bücher.
    Der Rabbi schüttelte den Kopf. »Das werden sie nicht tun, das ist auch zu gefährlich für sie selbst. Feuer greift um sich und wird zu einer Feuersbrunst, und den Flammen ist es egal, ob sie jüdische Häuser fressen oder christliche.«
    Plötzlich stand Tante Perl in der Tür, den Arm voller Kleidungsstücke. »Kommt auf den Dachboden«, rief sie mit einer Stimme, die hoch und schrill war vor Angst. »Löw, Jankel, schnell, kommt hinauf zum Versteck!«
    Jankel schüttelte den Kopf. »Ich hole Rochele.«
    »Nein«, schrie Tante Perl, sie ließ die Kleidungsstücke achtlos zu Boden fallen, stürzte sich auf ihn und schlang die Arme um ihn. »Nein! Du darfst nicht mehr raus, das ist zu gefährlich!«
    Jankel versuchte, sich loszureißen, aber sie hielt ihn mit einer Kraft fest, die er ihrem alten, hinfälligen Körper nicht zugetraut hätte. »Bitte«, flehte er, »ich muss zu Rochele.«
    Doch Tante Perl ließ ihn nicht los. »Sie ist bei Frume, Frume passt auf sie auf.«
    »Aber Frume hat sechs Kinder!«, rief Jankel verzweifelt. »Sechs, verstehst du?«
    Ihr Griff wurde nur noch fester, und es gelang ihm nicht, sich aus ihrer Umklammerung zu lösen, bis der Rabbi ihre Hände nahm und ruhig sagte: »Perl, lass ihn. In der Stunde der Not muss er tun, was sein Herz ihm sagt. Er ist dem Schöpfer für sein Leben verantwortlich, er wird es nicht unbedacht in Gefahr bringen.«
    Ihr Griff lockerte sich, und endlich gelang es Jankel, sich loszureißen. Während er die Treppe hinunterstürmte, hörte er, wie sie ihm nachrief: » Er lasse dich lebendig und froh und

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