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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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einer Hand an den Flügeln hoch, um allen zu zeigen, wie fett und gesund es doch war, und dunkel gekleidete Männer machten sich auf den Weg zu den verschiedenen Bethäusern.
    Als sie an der Altneuschul vorbeigingen, sagte Schmulik stolz: »Sie ist nicht nur die schönste Synagoge von Prag, sondern vermutlich die schönste von der ganzen Welt.«
    »Warum hat sie so einen seltsamen Namen?«, fragte Jankel und kickte einen Stein vor sich her. »Entweder ist sie alt oder neu, sie kann doch nicht beides sein.«
    Schmulik lachte. »Dafür gibt es nicht nur eine Erklärung, sondern gleich zwei. Hör zu, die eine Geschichte geht so: Als die Prager Juden vor bald siebenhundert Jahren beschlossen, eine Synagoge aus Stein zu bauen, gab es nur einen einzigen geeigneten Platz dafür, nämlich einen öden Hügel mitten im Judenviertel, voller Steine und Gestrüpp und bewachsen mit Dornen und Disteln. Diesen Hügel wollten sie abtragen, um dort ihre neue Synagoge zu erbauen. Beim Graben stießen sie jedoch auf ein paar unversehrte Mauern und behauene Quadersteine. Die Prager Juden waren unschlüssig, was sie tun sollten, denn wenn man eine Schul baut, muss man auch das Material bedenken, das man verwenden will. Nun waren damals gerade zwei Abgesandte aus der Gemeinde zu Jerusalem in Prag, die Geld zur Unterstützung der Armen in der Heiligen Stadt sammelten, zwei weise, gelehrte Männer, die man um Rat fragte.«
    Jankel unterbrach ihn. »Gibt es Juden in Jerusalem? Wirklich? Wurden sie nicht alle in der ganzen Welt verstreut und müssen die bittere Galut* ertragen?«
    Schmulik zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht«, sagte er, »vermutlich wird es dort Juden geben, sonst würde man die Geschichte ja ganz anders erzählen. Hör zu, wie sie weitergeht: Diese beiden Gelehrten sagten, die Steine müssten zu einer Synagoge gehört haben, wahrscheinlich hätten schon zur Zeit des zweiten Tempels* Juden in Prag gelebt. Deshalb sei es gut und richtig, diese Steine zum Bau der neuen Synagoge zu verwenden. Und sie sagten auch, man solle sich beim Bauen nach der Synagoge in Tiberias richten. Das Gewölbe solle von zwei Säulen getragen werden, und einige Stufen sollten hinunter ins Innere der Synagoge führen, das unbedingt tiefer liegen müsse, da es heißt: Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir! ›Werdet ihr die Synagoge so bauen‹, sagten sie, ›dann wird der Allmächtige eure Gebete erhören und dieses Gebäude vor Zerstörung durch Feuer oder Wasser gnädig schützen.‹
    Nicht alle wollten den beiden Fremden glauben, doch da erschien dem Gemeindevorsteher nachts der Prophet Elija hu* und befahl ihm, dem Rat der Männer Folge zu leisten. So geschah es, die Synagoge wurde gebaut, wie die Weisen aus Jerusalem es gesagt hatten. Und weil die neue Schul aus den Steinen einer alten entstand, heißt sie Altneuschul. Und sie steht noch immer. Als vor vielen Jahren, zur Zeit meines Großvaters, eine Feuersbrunst große Teile der Judenstadt zerstörte, blieb die Altneuschul unversehrt. Man sagt, zwei weiße Tauben hätten auf ihrem Dach gesessen und seien erst himmelwärts geflogen, als das Feuer gelöscht war und die Altneuschul nicht mehr länger beschützt werden musste.«
    Plötzlich blieb Schmulik stehen und neigte lauschend den Kopf zur Seite.
    »Und wie geht die zweite Geschichte?«, fragte Jankel neugierig.
    Schmulik hob die Hand. »Warte!«
    Nun hörte Jankel es auch. Vom Norden her kamen laute, krakeelende Stimmen. »Vielleicht ein Streit unter den Flößern«, sagte er.
    Aber Schmulik beachtete seine Worte nicht. Sein Körper spannte sich, er bewegte den Kopf hin und her, lauschend wie ein Rehbock, der eine drohende Gefahr wittert. Er war blass geworden. »Hörst du das?«, fragte er leise.
    Jankel nickte. Der Lärm kam von drüben, von der Altstadt, und wurde lauter und lauter, bald ließen sich einzelne Rufe unterscheiden, raue Stimmen brüllten »Christusmörder!« und »Nieder mit den verdammten Juden!«. Und immer wieder: »Tod! Tod allen Juden!«
    Schlagartig änderte sich die Stimmung auf der Straße. Erschrockene Rufe waren zu hören, Aufschreie und Warnungen schwirrten durch die Luft, Frauen riefen die Namen ihrer Kinder. Händler rafften hastig ihre Habseligkeiten zusammen und brachten sich in den umliegenden Häusern in Sicherheit, aufgeregte Mütter zerrten ihre Kinder von der Straße fort, Männer erflehten die Hilfe des Ewigen, und alle, die rennen konnten, rannten, Männer, Frauen und Kinder. Talmudschüler

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