Golem stiller Bruder
»Hättest du es lieber gehabt, dass sie in der Ecke sitzt und weint?«
Er schüttelte den Kopf. Erst als er Rochele den Kinderkringel hinhielt und sie ihm begeistert um den Hals fiel, ließ seine Enttäuschung nach. Das Mädchen rief Rejsele und Surele, um den köstlichen Leckerbissen mit ihnen zu teilen. Alle drei erzählten dem Jungen, was sie den ganzen Tag getrieben hatten, was für lustige Sprünge das Zicklein machte, dass sie mit Frume am Fluss gewesen waren, um Fische zu kaufen, und dass der kleine Jossele heute seine ersten Schritte gemacht hatte. Er saß mit den drei fröhlich plappernden Mädchen vor dem Haus, bis Frume sagte, er solle jetzt gehen, für die Kinder sei es Zeit zu schlafen. Er küsste seine kleine Schwester zum Abschied und machte sich auf den Heim -weg.
D er Himmel war wolkenlos, über der Stadt hing der Mond und beleuchtete alles mit seinem blassen Licht. Ich dachte an Mo ř ina und an Tante Schejndl und hoffte, es möge ihr besser gehen. Ich fragte mich, ob ich Heimweh hatte, und wusste die Antwort nicht. Sehnsucht schon, aber Heimweh?
Ich dachte auch an meinen Vater und sah ihn vor mir, wie er sich das letzte Mal verabschiedet hatte. Ich hatte Schumele, seine alte Stute, in aller Frühe gefüttert und gebürstet, sodass ihr Fell glänzte, als wäre sie zehn Jahre jünger. Ich streichelte ihre weichen Nüstern, während er sich mit einer Zärtlichkeit von Rochele verabschiedete, als wüsste er, dass er sie lange nicht mehr sehen würde, vielleicht nie mehr. Er küsste sie wieder und wieder und hatte Tränen in den Augen, als er sie losließ und mich in die Arme nahm. »Pass gut auf deine kleine Schwester auf, Jankel«, sagte er. »Du bist mir und dem Ewigen, gelobt sei er, für sie verantwortlich, solange ich nicht zu Hause bin.«
Damals hatte ich nicht gewusst, wie lange ich ihn nicht mehr sehen würde, ich war traurig gewesen, wie ich immer traurig war, wenn er wegfuhr, ich hatte mich an ihn gedrückt und meine Hände in seinen Bart geschoben und an seinem Hals gerochen, der bei ihm einen ganz besonderen, wunderbaren Geruch hatte, aber das war alles. Ein Abschied wie immer. Ich überlegte, wie schon so oft, wo er sich jetzt wohl aufhielt und warum er noch nicht zurückgekommen war. Tante Schejndl hatte es zwar nicht ausgesprochen, aber mir war klar, dass sie fürchtete, ihm könne ein Unglück passiert sein, etwas wirklich Schlimmes. Und etwas wirklich Schlimmes ist der Tod, was gibt es Schlimmeres, dachte ich, als ich gerade an der Friedhofsmauer vorbeiging.
Doch ich riss mich zusammen, so etwas durfte ich nicht denken. Mein Vater lebte, das glaubte ich ganz fest, weil ich es glauben wollte. Man spürt es im Herzen, wenn ein Vater oder eine Mutter stirbt, dachte ich. Damals hatte mir auch keiner sagen müssen, dass sie, meine Mutter, in die andere Welt gegangen war und ich sie nie, nie mehr sehen würde.
Bedrückt lief ich weiter und bog um die Ecke. Vor mir, fast am anderen Ende der Gasse, ging eine Tür auf und der Hohe Rabbi Löw trat aus einem Haus. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, aber ich erkannte ihn an seiner hohen Gestalt. Er hatte sich die Kapuze seines Umhangs über den Kopf gezogen und schlug die Richtung zu seinem Haus ein. Er ging langsam und schwerfällig, als wäre er sehr müde.
Ich beschleunigte meine Schritte und lief schneller. Ich wollte ihm sagen, wie dankbar ich ihm war, dass er bereit war, für mich und meine Schwester zu sorgen, denn das hatte ich noch nicht getan. Und ich wollte ihm auch dafür danken, dass er mich zu Mendel, dem Bäcker, gegeben hatte. »Rabbi Löw«, rief ich, als ich ihn fast erreicht hatte, »Rabbi Löw! Onkel! Warte doch!«
Er reagierte nicht, er schien mich nicht gehört zu haben. Ich griff nach seinem Arm und da drehte er sich um.
Es war nicht Rabbi Löw.
Das Gesicht des Mannes war grob und ungeschlacht, mit einer mächtigen Nase und breiten Nasenflügeln, und bis auf die dicken, zusammengewachsenen Augenbrauen vollkommen haarlos. Ein Ungeheuer, eine Missgeburt, wie man sie auf Jahrmärkten zeigt. Der Blick, mit dem er mich anschaute, war seltsam gleichgültig und ging durch mich hindurch, als sähe er mich gar nicht, sein Mund blieb starr. Ich fror unter diesem Blick, das Blut strömte mir aus dem Kopf in die Beine, ich fing an zu zittern, die Arme, die ich nach ihm ausgestreckt hatte, fielen hilflos an mir herab, ich hatte das Gefühl, als dehne sich dieser Moment und höre nie auf. Der Mann schaute mich schweigend an,
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