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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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ich brachte kein Wort heraus. Dann, endlich, drehte er sich wortlos von mir ab und setzte seinen Weg fort.
    Ein Würgen stieg in meiner Kehle auf. Mir war so schwindlig und übel, dass ich kraftlos zu Boden sank. Ich saß da im Staub und sah, wie dieses Ungeheuer auf das Haus des Rabbi Löw zuging, die Tür öffnete und verschwand.
    Da wusste ich, dass ich Josef gesehen hatte.

4. Kapitel
Aus der Tiefe rufe ich zu dir
    F ür Jankel war es vor allem Schmulik, der es ihm leicht machte, sich in der fremden Umgebung einzugewöhnen, und der ihm das Gefühl gab, willkommen zu sein. Manchmal holte er ihn morgens ab, und abends, wenn Jankel bei Rochele vorbeigeschaut hatte, schlenderten sie oft zusammen durch die Judenstadt, und Schmulik erklärte Jankel dann, wer in diesem Haus wohne und wer in jenem, was die Leute heimlich oder offen über eine Frau erzählten, die in ihrer Jugend sehr schön gewesen war, oder über einen Mann, der aus lauter Geiz seinen Bruder an den Bettelstab gebracht und ihn dadurch aus der Stadt vertrieben hatte. Er zeigte ihm den Talmudschüler, einen gut aussehenden jungen Mann mit einem goldblonden Bart und langen, gedrehten Schläfenlocken, von dem es hieß, dass er Lea, Mendels älteste Tochter, heiraten solle, und er erzählte von einem schon zweimal verwitweten Mann, der jetzt von seiner dritten Frau endlich den ersehnten Erben bekommen hatte. Schmulik brachte Jankel oft zum Lachen, zum Beispiel wenn er von einer Frau sagte, sie sei so böse, dass die Milch im Topf sauer werde, wenn sie bloß hineinschaue, und von einer anderen, sie sei so dumm, dass sogar die Mücken vor ihr fliehen würden. Und wenn Jankel lachte, legte ihm Schmulik den Arm um die Schulter und lachte mit ihm.
    Manchmal gingen sie auch an der Moldau spazieren, denn Jankel liebte den Fluss, der immer anders aussah, mal war das Wasser graublau, dann wieder fast schwarz oder mit glitzernden Silberflecken bedeckt, je nach dem Wetter und der Farbe des Himmels, und er liebte auch das Rauschen, das die Luft erfüllte wie eine seltsame, aufwühlende oder beruhigende Musik. Sie unterhielten sich darüber, wie es wohl woanders aussah, wie die Leute dort sprachen und ob sie sich andere Geschichten erzählten. Wie es in Mo ř ina aussah und was die Leute dort zueinander sagten, hatte Jankel schnell erzählt, es war auch nicht besonders spannend. Und viel mehr wusste er nicht. Aber er genoss es, wenn Schmulik beschrieb, wie er sich fremde Landschaften und fremde Städte vorstellte: prächtiger als Prag, weiter, schöner und bunter.
    M ir fiel auf, dass ich aufhörte, ständig alles, was ich in Prag sah und erlebte, mit dem zu vergleichen, was ich in Mo ř ina gesehen oder erlebt hatte. Dass ich nicht mehr dachte: Hier sind die Häuser höher als in Mo ř ina, hier sprechen die Menschen lauter, sie schimpfen und lachen schneller, sie bewegen sich sogar anders und reden weniger über das Wetter oder darüber, wie das Getreide steht, sondern über ihren Lebensunterhalt, und besonders gern klatschen sie über andere. Und ich dachte auch nicht mehr jedes Mal, dass Tante Perl vornehmer aussah als alle Frauen, die ich in Mo ř ina je gesehen hatte, und dass Jentes Teigtaschen besser schmeckten, als Tante Schejndls geschmeckt hatten. Es war einfach so.
    Am meisten aber genoss ich es, mit Schmulik zusammen zu sein. In Mo ř ina hatte es keinen Jungen in meinem Alter gegeben, außer Pinkas und Schmiel, die ich beide nicht mochte. Und Jochi, die ich gut leiden konnte, hatte sich in den letzten Jahren zurückgezogen. Sie war ein Mädchen, und ihre Mutter achtete streng darauf, dass sie nicht mehr als unbedingt nötig mit Jungen sprach. Hier in Prag hatte ich zum ersten Mal einen Freund, und nicht nur irgendeinen, ich hatte Schmulik. Jeden Morgen freute ich mich darauf, ihn zu sehen.
    E s war später Nachmittag, als die beiden Jungen nebeneinanderher durch die Judenstadt gingen. Der Abend war nicht mehr fern, über der Burg zeigte sich ein blasser, abnehmender Mond am noch blauen Himmel, der im Westen schon seine Farbe verlor und fast gelb wurde. Nur im Norden kamen dunkle Wolken auf, aber noch war es ein schöner, warmer Spätnachmittag und in der Judenstadt herrschte ein reges Treiben. Frauen riefen sich Grüße zu, Kinder lachten und tobten, und Händler versuchten, Kunden zu einem letzten Kauf zu überreden. Eine Bäuerin pries lautstark und fast verzweifelt das einzige Huhn an, das ihr noch geblieben war, sie hielt das wild gackernde Tier mit

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