Golem stiller Bruder
Blut der Märtyrer nicht zu entweihen.«
»Ich habe schon einmal davon gehört«, sagte Doktor Balthasar. »Aber ein schriftlicher Bericht ist mir nie in die Hände geraten.«
»Avigdor Kara, ein Kabbalist und Augenzeuge der Gräueltaten, hat darüber geschrieben«, sagte der Rabbi. »Seine Elegie wird seither an jedem Jom Kippur* in allen Prager Synagogen vorgelesen. Sie beginnt mit den Worten: ›Wer schildert das Leid, das uns geschehen …‹ Wenn Ihr wollt, lasse ich Euch eine Abschrift anfertigen und bringe sie Euch das nächste Mal mit. Versteht Ihr, auch damals hat sich der Pöbel von den Mönchen aufhetzen lassen, genau wie heute von diesem Jesuitenprediger Thaddäus. Zweihundert Jahre sind vergangen und die Menschen sind kein bisschen klüger geworden.«
»Wie sollten sie auch?«, unterbrach ihn Doktor Balthasar. »Die Pfaffen und die Obrigkeit halten sie dumm, sie dürfen noch nicht einmal selbst die Bibel lesen, dabei können die wenigsten überhaupt lesen, sie müssen alles glauben, was ihnen gesagt wird. Und die Katholiken und die Protestanten schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein. In was für einer Welt leben wir doch! Die Menschen sind noch nicht reif für die neuen Wissenschaften, vielleicht werden sie es nie sein. Dazu droht der ganze Hexenwahn langsam von den Ländern im Westen auf uns überzugreifen. Das macht mir Angst. Versteht Ihr, unsere Liebe zur Magie und unser Bestreben, die Gesetze des Kosmos zu verstehen, könnten uns als Hexerei ausgelegt werden, man könnte uns beschuldigen, Hexenmeister zu sein. Uns droht eine Gefahr, die wir nicht unterschätzen dürfen. Noch ist dieser ganze Wahnsinn ein Funke, aber wie leicht entwickelt sich aus einem Funken ein Feuer, das zu einer Feuersbrunst wird. Wir müssen noch vorsichtiger sein als bisher, mein Freund, jeder kann zum Opfer falscher Anschuldigungen werden.«
»Mit falschen Anschuldigungen kennen wir Juden uns aus«, sagte der Rabbi ruhig. »Schon seit jeher werden falsche Beschuldigungen gegen uns vorgebracht. Und oft genug bleibt es nicht bei Beschuldigungen. Heute wurde hier bei uns ein alter, hilfloser Mann erschlagen.«
Doktor Balthasar nickte. »Ich weiß es, dieser rothaarige Junge hat es mir erzählt.«
»Die Mönche, allen voran Thaddäus, fangen schon wieder mit ihren Hetzreden an«, fuhr der Rabbi erregt fort. »Es braut sich etwas zusammen, ich spüre es. Die Zeiten sind nicht gut für uns.« Er schwieg einen Moment, bevor er weitersprach: »Plünderungen und Übergriffe gibt es immer wieder, es vergehen kaum ein paar Jahre, ohne dass wir sie ertragen müssen, aber ich fürchte, dass das, was wir heute erleben mussten, nur der Anfang von einer viel schlimmeren Katastrophe war.«
»Die Mönche mit ihrem dummen Hass und ihrem missionarischen Eifer sind wirklich ein Unheil«, sagte Doktor Balthasar. »Aber vergesst nicht, mein Freund, dass es auch um Geld geht, um viel Geld sogar. So mancher Bewohner Prags hat Schulden bei reichen Juden, zum Beispiel bei Mordechaj Meisl, und es sind nicht nur Kaufleute, die aus irgendwelchen Gründen in Not geraten sind, sondern auch viele Offiziere, Beamte und adlige Gutsbesitzer.«
Der Rabbi senkte den Kopf. »Ja, gerade Reb Meisl ist ein sehr reicher Mann und das erweckt natürlich Neid. Aber er ist auch der Primas unserer Gemeinde, was bei euch Chris ten ungefähr dem Amt eines Bürgermeisters entspricht, und Ihr müsst wissen, er ist ein aufrichtiger, gottesfürchtiger Jude und tut viel Gutes für Alte und Bedürftige, für Kranke und Waisen. Ohne ihn und seine Wohltätigkeit würde es vielen Bewohnern der Judenstadt noch viel schlechter gehen. Die meisten hier können ja froh sein, wenn sie einmal am Tag ein Stück Brot und eine Zwiebel zu essen haben. Nein, Reb Meisl ist ein edler Mensch, ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemanden betrügt oder dass er Wucherzinsen nimmt.«
»Das habe ich nicht gesagt«, widersprach Doktor Balthasar. »Ich meine nur, dass sehr viele Prager Bürger Schulden bei ihm haben. Es heißt, dass sogar Kaiser Rudolf sich Geld bei ihm geliehen habe, um neue, kostbare Gemälde für seine Sammlung zu kaufen, und die Kaiserin soll mit zweitausend Gulden verschuldet sein, für die kaiserliche Küche. Und viele der Adligen können ihre Güter nur halten, weil Mordechaj Meisl oder ein anderer reicher Jude ihnen ein Darlehen gegeben hat.«
Die beiden Männer schwiegen, dann sagte der Rabbi: »Und Ihr meint, man wird seine Schulden auf die einfachste Art und
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