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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Rabbi befohlen hatte. Massig und unbeweglich stand er da und glich eher einem Monument als einem lebenden Menschen. Die Gassen der Judenstadt waren wie leer gefegt, sie trafen keine Menschenseele, nur eine Katze, die mit einem gewaltigen Satz vor ihnen auf die Gasse sprang und ihre Krallen in eine der unzähligen Ratten schlug, die aus den Höfen kamen und zwischen den Abfällen herumhuschten. »Nachts gehört die Stadt den Ratten«, flüsterte Schmulik seinem Freund zu. Jankel nickte nur. Schmulik schob sich die Schläfenlocken hinter die Ohren und Jankel tat es ihm nach.
    Schweigend gingen sie weiter, ihre Schritte hallten so laut in der Stille, dass sie nicht zu sprechen wagten. Erst als sie die Judenstadt hinter sich gelassen hatten und an der Nikolaikirche vorbeigingen, sagte Jankel: »Josef macht mir Angst. Ich weiß nicht, warum, aber mir wird kalt, wenn er in der Nähe ist. Wenn ich ihn nur von weitem sehe, möchte ich weglaufen, möglichst weit weg.«
    Es dauerte eine Weile, bis Schmulik antwortete, und seine Stimme klang kühl und abweisend, als er sagte: »Josef hat heute Schlimmeres verhütet, wir haben allen Grund, ihm dankbar zu sein.«
    »Was weißt du über ihn?«, fragte Jankel. »Wo kommt er her? Hat er Verwandte in der Stadt? Warum sagt er nie etwas? Ich habe noch nie seine Stimme gehört.«
    Schmulik sagte: »Ich auch nicht, keiner hat das. Josef kann nicht sprechen und Verwandte hat er auch keine. Niemand weiß etwas über ihn. Die Leute sagen, der Rabbi habe ihn eines Tages auf der Straße gefunden und ihn aus Barmherzigkeit in sein Haus aufgenommen, eine Mizwa, verstehst du.«
    Jankel hörte an der Stimme seines Freundes, dass er diese Erklärungen nur widerwillig gab. Aber seine Neugier war geweckt, er konnte sich nicht zurückhalten. »Was weißt du noch über ihn?«
    Schmulik schüttelte den Kopf. »Lass es gut sein«, sagte er. Und als er sah, dass Jankel den Mund öffnete, um seine Frage zu wiederholen, fuhr er ihn schroffer an, als es seine Art war: »Hör auf, Jankel! Kümmere dich nicht um ihn, hörst du? Wer zu viel wissen will, erfährt oft Dinge, die er besser nicht erfahren hätte. Hinterher tut es ihm vielleicht leid, aber dann lässt es sich nicht mehr ungeschehen machen.«
    Schweigend gingen sie weiter. Immer wieder trafen sie Menschen, einzeln oder in Gruppen, die zu so später Stunde noch zu Fuß unterwegs waren, manche trugen Laternen, andere hatten ihre Umhänge über die Köpfe gezogen und gingen raschen Schrittes vorwärts, und wieder andere unterhielten sich so laut und unbefangen, als wäre es helllichter Tag. Die Jungen wichen ihnen aus, und wenn sie an erleuchteten Wirtshäusern vorbeigingen, aus denen lauter Lärm drang, beschleunigten sie ihre Schritte. Von irgend woher kam lautes Gelächter.
    »Ist dir eigentlich schon aufgefallen, dass in der Judenstadt weniger gelacht wird als im Prag der Christen?«, fragte Schmulik.
    Jankel wusste nicht, was er darauf antworten sollte, also schwieg er. Erst später, als er fast auf eine Ratte getreten wäre, sagte er: »Du hast recht, nachts gehört die Stadt den Ratten. Und den Ratten ist es egal, ob sie unter Juden leben oder unter Christen. Eigentlich seltsam, nicht wahr?«
    Schmulik zuckte nur mit den Schultern, er schien in Gedanken versunken zu sein.
    M ir steckten der Schrecken und die Angst noch in den Gliedern und das Prag der Christen war mir unheimlich. Unheimlich waren mir auch die Menschen, von denen ich nicht wusste, woher sie kamen und wohin sie gingen und ob sie nicht vielleicht Böses im Sinn hatten. Mir war, als müsste ich jedes Mal den Kopf einziehen, wenn uns jemand entgegenkam. Aber keiner beachtete uns. Nur manchmal streifte uns ein neugieriger Blick, glitt aber gleich weiter, wir waren offenbar wirklich nicht auffällig. Trotzdem fühlte ich mich unbehaglich und beneidete Schmulik darum, wie sicher er sich durch die Stadt bewegte. Er gehörte hierher, so wie die Ratten hierhergehörten. Und ich? Ich gehörte eigentlich nach Mo ř ina, wo ich nicht nur jeden Menschen kannte, sondern auch jeden Baum und jeden Strauch, sogar jeden Grashalm.
    S ie gingen durch eine Gasse, die so eng war, dass fast kein Mondlicht hereindrang, hier drängte sich die Dunkelheit zwischen den Häusern zusammen, und Jankel kam nur vorsichtig tastend vorwärts. Aber Schmulik hatte Augen wie eine Katze, er nahm Jankel an der Hand und führte ihn sicher an Pfützen und Abfall vorbei. Der Fluss war jetzt schon so nah, dass man ihn

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