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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Kapitel
Falsches Zeugnis
    W enn das Unheil auf die Erde sinkt, erdrückt es jeden Funken von Freude und überdeckt alle Farben. Die Stadt war grau, noch nie hatte sie so grau ausgesehen wie an jenem Tag, als Josef und Jankel nebeneinanderher durch die Gassen gingen. Hier, in der Judenstadt, wandten die Menschen, die ihnen entgegenkamen, zwar die Gesichter ab und wichen ihnen aus, aber sie blieben wenigstens nicht stehen, sie deuteten nicht mit dem Finger auf sie und fingen nicht an zu tuscheln, sie waren an Josefs Anblick gewöhnt. Das änderte sich, als sie die Judenstadt hinter sich gelassen hatten.
    E s war mir peinlich, mit Josef gesehen zu werden, ich schämte mich und zugleich schämte ich mich meiner Scham. Ich erinnerte mich, dass ich einmal mit Jente über ihn gesprochen hatte, damals, als ich noch nicht wusste, dass er ein Golem war. Ich hatte meine Zunge nicht im Zaum halten können, ich weiß noch genau, was ich zu ihr sagte: »Ich bekomme eine Gänsehaut bei seinem Anblick. Er sieht aus wie eine der Missgeburten, die man auf Jahrmärkten zeigt.«
    Da wurde Jente zornig, und als sie antwortete, war sie meiner Tante Schejndl ähnlicher, als es mir lieb sein konnte. »Wenn einer anders ist als andere Menschen, dann hat der Ewige es so gewollt, und wir dürfen ihn nicht verlachen und schlecht über ihn reden, denn es steht geschrieben: Wer den Armen verspottet, verhöhnt den Schöpfer, und wer sich über des anderen Unglück freut, wird nicht ungestraft bleiben .«
    Ich wusste, dass sie recht hatte, ich wusste, dass es eine Sünde war, sich über einen anderen Menschen zu erheben und auf ihn hinabzuschauen. Aber galt das auch für einen, der kein Mensch war, sondern ein Golem?
    D er Junge lief mit gesenktem Kopf neben Josef her, dem das Aufsehen, das er erregte, nichts auszumachen schien, er stapfte gleichmütig weiter, ohne nach rechts und links zu schauen, und jeder seiner Schritte war so lang wie der andere, jedes Aufschlagen seines Fußes auf dem Pflaster war so laut, wie das vorherige gewesen war und wie das nächste sein würde. Jankel musste immer wieder schneller laufen, um mit Josefs Tempo mitzuhalten. Irgendwann ließ er sich ein paar Schritte zurückfallen, doch dann, als schäme er sich dieses Verhaltens, rannte er, um Josef einzuholen, und blieb trotzig an seiner Seite.
    Sie hatten die Stadt verlassen, überquerten einige Wiesen und Felder und erreichten einen dichten, düsteren Wald. Josef betrat ihn so zielstrebig, als kenne er den Weg genau, als würde er ihn jeden Tag zurücklegen. Oder als leuchte ihm irgendwo ein Licht, auf das er zuhalten konnte.
    I ch folgte Josef, weil ich keine Wahl hatte, weil der Rabbi es mich geheißen hatte, aber ich konnte es nicht verstehen. Woher wusste er, welchen Weg er einschlagen musste, welche der vier Windrichtungen uns zu unserem Ziel führen würde? Und zu welchem Ziel? Und wieder dachte ich: Ist dies eine Fähigkeit, ein Wissen, das der Ewige, gelobt sei er, in ihn gelegt hat, oder ist es ein teuflischer Zauber? Ich fühlte mich wie ein Dummkopf, während ich ihm so hinterherlief, geplagt von zweifelnden Überlegungen, ob ich ein Narr war oder ob ich einem geheimen Wissen folgte, dessen Erkenntnis mir nicht gegeben war. Josef zögerte nicht auf seinem Weg, kein Zweifel hemmte seine Schritte.
    Schließlich sagte ich mir, dass sich auch die Vögel im Herbst versammelten und davonzogen, um zum rechten Zeitpunkt im Frühjahr zurückzukehren, ohne dass wir Menschen verstanden, woher sie den Zeitpunkt für ihre Abreise und die Richtung ihres Fluges kannten. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich in die Hand des Ewigen zu geben und Josef zu folgen.
    S ie liefen und liefen. Jankel hatte das Gefühl, als wären sie schon stundenlang unterwegs, sein Magen knurrte und seine Knie wurden weich. Er setzte sich auf einen Stein und holte die Teigtaschen heraus, die Jente für ihn eingepackt hatte. Zögernd hielt er Josef, der neben ihm stehen geblieben war, eine hin, doch der schüttelte nur den Kopf. Jankel aß eine Teigtasche und trank ein paar Schlucke Wasser aus dem Schlauch, dann packte er alles wieder ein und erhob sich. Josef nahm ihm das Bündel aus der Hand, hängte es sich selbst über die Schulter und stapfte weiter. Ab und zu blieb er stehen, drehte sich um und wartete, bis der Junge ihn wieder eingeholt hatte.
    Wind war aufgekommen, das Rauschen in den Baumwipfeln über ihnen nahm zu und auch das Rascheln des trockenen Laubs unter ihren Füßen wurde

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