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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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lauter und bedrohlicher, und die Schatten, die aus dem Unterholz krochen, wurden tiefer, bis sie ganz schwarz waren. Etwas huschte vor Jankel über den Weg und war verschwunden, bevor er erkennen konnte, um welches Tier es sich gehandelt hatte. Inzwischen waren auch die Nachtvögel erwacht und ihre schaurigen Rufe hallten durch die Luft wie die Rufe toter Seelen.
    Sie erreichten einen Bach, der zu breit war, als dass man mit einem großen Satz auf die andere Seite hätte springen können. Jankel spähte durch die Dämmerung nach einer seichten Stelle, an der ihm ein paar größere Steine im Wasser erlauben würden, von einem Stein zum nächsten zu springen und so trockenen Fußes das andere Ufer zu erreichen, doch es war schon zu dunkel, er konnte nicht mehr viel erkennen. Hilflos blieb er stehen. Da wurde er plötzlich in die Luft gehoben und fing erschrocken an zu strampeln, doch der Griff um seine Mitte lockerte sich nicht, Josef trug ihn mit hoch erhobenen Händen durch das Wasser und setzte ihn am anderen Ufer vorsichtig auf den Boden.
    I ch war so erschrocken, als ich plötzlich den Boden unter den Füßen verlor, dass ich zappelte wie ein Fisch an der Angelschnur. Aber ich beruhigte mich schnell und hörte auf zu zappeln, denn der Griff um meine Mitte war so fest, dass ich sicher war, Josef würde mich nicht fallen lassen. Der Griff war zugleich fest und zart, hart und weich und ungemein verlässlich, ein Griff, den ich von meinem Vater kannte, so hatte er mich gehalten, als ich ein kleiner Junge war, und das war sehr lange her, viel länger, als es in Wirklichkeit gewesen sein konnte. Mein Leben in Mo ř ina schien mir viele Jahre zurückzuliegen, und noch mehr Jahre schien es her zu sein, dass ich meinen Vater zum letzten Mal gesehen hatte.
    I nzwischen war es dunkel geworden, doch Josef stapfte unbeirrt weiter, als hätte er die Augen einer Katze. Jankel folgte ihm, so gut es ging, auch wenn seine Beine immer schwerer wurden und sein Atem kürzer. Im Unterholz hinter ihm knackten Zweige, Blätter raschelten, tappende Schritte waren zu hören. Jankel gefror das Blut in den Adern. War das ein gefährlicher Braunbär oder bildete er sich die Schritte bloß ein? Spielte ihm seine Fantasie einen Streich? Gaukelte ihm seine Angst das alles vor? Das Blut rauschte in seinen Ohren, dunkle Schatten krochen aus dem Gebüsch, irgendwo schrie ein Käuzchen, ein anderes antwortete. Trotz Schimons warmem Umhang fror Jankel, er konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Er wusste nicht, wie spät es war, wie viele Stunden sie schon gelaufen waren, vielleicht war es schon lange nach Mitternacht. »Josef«, rief er leise, und dann lauter: »Josef!«
    Josef blieb stehen und Jankel schleppte sich mit letzter Kraft zu ihm. »Ich kann nicht mehr«, sagte er.
    Josef schaute ihn an. In der Dunkelheit war sein Gesicht nur ein grauer Fleck, die Augen nicht mehr zu erkennen.
    A ber ich kannte den Blick, ich hatte ihn schon einmal gesehen, damals, an jenem Abend, als ich Josef zum ersten Mal getroffen hatte, diesen seltsam gleichgültigen Blick, der durch mich hindurchging, als sähe er mich gar nicht, und wie damals überlief mich ein Schauer und das Blut strömte mir aus dem Kopf in die Beine. Aber diesmal fing ich nicht an zu zittern, ich beruhigte mich, das Blut strömte in meinen Kopf zurück, ich wich Josefs Blick nicht aus und sagte noch einmal: »Ich kann nicht mehr.«
    J osef hob langsam die Hand und deutete auf den Boden. »Hier?«, fragte Jankel entsetzt. »Hier? Wir können doch nicht einfach hier im Wald schlafen, wir müssen uns eine Höhle suchen.«
    Doch Josef hatte sich schon hingesetzt. Deshalb, und weil er so erschöpft war, sank Jankel neben ihm zu Boden. Er fühlte gerade noch, dass er auf einem Moospolster landete, da fielen ihm auch schon die Augen zu. Erschrocken riss er sie wieder auf, er wollte doch nicht schlafen, er wollte sich nur ein bisschen ausruhen, weil seine Beine schmerzten, nur ein bisschen ausruhen… Aber seine Lider gehorchten ihm nicht, ebenso wenig wie seine Arme und seine Beine, er sackte in sich zusammen. Er sah nicht mehr, dass sich Arme nach ihm ausstreckten, er spürte nur diesen Griff, fest und doch weich, mit dem er hochgehoben wurde. Er landete auf einem Schoß, warme Arme umfingen ihn, hielten ihn, wie man ein kleines Kind hält, wiegten ihn, wie man ein kleines Kind wiegt. Er wollte sich wehren, war aber zu müde dazu, er war sogar zu müde, um sich zu fürchten.
    I ch träumte,

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