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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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ich würde verfolgt, ohne dass ich wusste, wer meine Verfolger waren, ich wusste nur, dass sie mir nach dem Leben trachteten. Es war Nacht, ich stolperte durch einen Wald und meine Verfolger kamen immer näher, sie waren schon so dicht hinter mir, dass ich ihren Atem in meinem Nacken zu spüren meinte, ihre Fingerspitzen an meinen Haaren. Da tauchte plötzlich, aus dem Nichts, ein Haus vor mir auf, ein Haus, dessen Tür weit offen stand. Ich lief hinein, schlug die Tür hinter mir zu und legte den eisernen Riegel vor.
    Da erst merkte ich, dass es sich nicht um ein Haus handelte, sondern um einen Turm. Draußen rüttelten meine Verfolger an der Tür, der Riegel schepperte in seiner Halterung. Ich rannte die Wendeltreppe nach oben, immer höher, unendlich hoch, bis ich weit oben auf einer Plattform herauskam.
    In diesem Moment ging die Sonne auf, so schnell, als hätte sie sich vorgenommen, mir noch in meinen letzten Augenblicken die Schönheit der Welt zu zeigen. Und sie war schön, sie war wunderschön. Mir zu Füßen lagen Wälder und Wiesen, Felder, Hügel, Flüsse und Seen, und alles war wie mit flüssigem Gold überzogen. Ich starrte diese Herrlichkeit an und spürte ein nie gekanntes Glück, ich war so glücklich wie noch nie in meinem Leben, ich hatte gar nicht gewusst, dass ein Mensch so glücklich sein konnte. So schön war die Welt also, so schön und so groß.
    Aber mir blieb keine Zeit, mich lange an dieser Pracht zu erfreuen, ich hörte schon, dass es meinen Verfolgern gelungen war, die Tür aufzubrechen, ihre Schritte polterten die Treppe herauf und kamen immer näher. Da neigte ich mich gen Osten, wie das stille Jüdel es getan hatte, und sprang, mit einem »Höre Israel« auf den Lippen, in die Tiefe.
    Seltsamerweise fiel ich nicht, ich schwebte durch die Luft, wie eine Schneeflocke an einem windlosen Tag schwebt, und landete sanft auf einem Schoß. Schlaf, Jankele, sagte Josef, schlaf ganz ruhig, du bist in Sicherheit, ich passe auf, dass dir keiner etwas tut. Schlaf, mein Junge, schlaf. Ich wunderte mich, Josef konnte doch gar nicht sprechen, und da merkte ich, dass es die Stimme des Hohen Rabbi Löw war. Oder war es die meines Vaters? Er trug mich wie damals, an jenem Tag, als er mich hinter dem Gebüsch gefunden hatte, er schaukelte mich und seine warmen Tränen fielen auf mein Gesicht und trösteten mich.
    A ls Jankel am nächsten Morgen aufwachte, spürte er noch immer dieses wiegende Schaukeln, ein so sanftes, beruhigendes Schaukeln, dass er nur widerwillig die Augen aufmachte. Doch da zuckte er zusammen und wurde steif vor Schreck. Er wurde von starken Armen über Felder und Wiesen getragen, und über sich sah er Josefs Gesicht, ausdruckslos wie immer, den Blick nach vorn gerichtet. Er brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, um zu wissen, wo er war, doch dann fiel ihm alles ein, er wusste wieder, was geschehen war und warum ihn der Hohe Rabbi mit Josef losgeschickt hatte.
    »Josef…«, sagte er leise.
    Josef blieb stehen und stellte ihn mit einer unerwartet sanften Bewegung auf den Boden, so wie man einen zerbrechlichen Gegenstand abstellt, ein kostbares Glas vielleicht.
    I ch schaute ihn an. Sein Gesicht sah nicht anders aus als sonst, grobschlächtig und starr, mit buschigen Augenbrauen, die über der mächtigen Nase mit den breiten Nasen flügeln zusammenwuchsen, mit Augenlidern ohne Wimpern und mit einer glatten, fahlen Haut. Auch seine Lippen waren so starr wie sonst. Warum kam es mir dann so vor, als verzögen sie sich zu einem Lächeln?
    D er Junge blickte sich um. Die gestrigen Wolken waren vom Wind weggeweht worden, nur ein Dunstschleier hing noch vor der Sonne, die gerade aufging. Der Wald lag weit hinter ihnen, Jankel war sich noch nicht einmal sicher, ob der Wald, der dort am Horizont zu sehen war, jener Wald war, in dem ihn gestern der Schlaf übermannt hatte. Er konnte ja nicht wissen, wie lange Josef in der Nacht gelaufen war, wie lange er ihn auf seinen Armen geschaukelt hatte. Jetzt standen sie auf einer kleinen Anhöhe inmitten riesiger, schon abgeernteter Getreidefelder und vor ihnen lag ein Gutshof mit Scheunen, Schuppen und Gesindehäusern, im Garten blühten Sonnenblumen. Jankel streckte die Hand aus. »Dorthin?«, fragte er und Josef nickte.
    Sie machten einen Umweg, näherten sich dem Gutshof von hinten, durch einen Obstgarten. An den Bäumen hingen blaue Pflaumen und grüne Äpfel, die schon rote Bäckchen bekamen. Josef legte den Finger auf die Lippen und bewegte

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