Golem stiller Bruder
Als sie weit genug von der Scheune entfernt waren, pflückte Jankel schnell zwei Äpfel und schob sie in seine Tasche.
Wieder lief Josef zielstrebig los, wie von einem unsichtbaren Band gezogen, mit seinen immer gleich langen Schritten, in seinem immer gleichen Tempo, bei dem Jankel nur schwer mithalten konnte. Außerdem hatte er Hunger. »Josef«, rief er.
Josef blieb stehen und Jankel deutete auf das Bündel über seiner Schulter, doch Josef schüttelte den Kopf. »Aber ich habe Hunger«, sagte Jankel, und als Josef weitergehen wollte, sagte er noch einmal: »Josef, ich habe Hunger, ich muss etwas essen.«
Da hielt Josef inne und reichte ihm das Bündel.
Jankel aß im Gehen eine von Jentes Teigtaschen, trank etwas Wasser und biss hinterher in einen Apfel, der aber sehr sauer war und ihm den Mund zusammenzog. Trotzdem verzehrte er ihn und fühlte sich danach gestärkt.
Sie durchquerten einen Wald und sahen dann, hinter Brombeeren und Holunderbüschen, eine Hütte vor sich liegen, mit einer Bank und einem gemauerten Ziehbrunnen. Josef blieb stehen, ohne ein Zeichen zu geben, er schaute nur zu der Hütte hinüber.
»Ist es dort?«, fragte Jankel und Josef nickte.
Sie gingen vorsichtig um die Büsche herum, wobei Josef sich bückte, um nicht gesehen zu werden, und näherten sich der Hütte von hinten, von wo aus sie noch ärmlicher aussah als von vorn. Aus einem angebauten Stall hörten sie das Meckern einer Ziege, in einem eingezäunten Feld daneben graste ein magerer Gaul, zwei Schweine suhlten sich im Dreck und ein paar Hühner pickten im Gras nach Würmern, der dazugehörige Hahn thronte auf einem Misthaufen.
Ein Holunderbusch verdeckte fast das niedrige Fenster und bot Jankel genug Schutz, um in die Hütte zu spähen. Er erblickte einen ärmlichen Raum, der nicht viel anders aussah, als es bei ihnen zu Hause, in Mo ř ina, ausgesehen hatte: ein Schrank, eine Kommode, ein Tisch mit einer Bank und zwei Stühlen, ein gemauerter Herd, von dem aus ein Rohr nach draußen führte, daneben eine Anrichte und im Alkoven ein breites Bettgestell.
A ls ich das alles sah, wie ärmlich es war und zugleich so nützlich und ohne etwas Überflüssiges, packte mich ein heftiges Gefühl der Sehnsucht und der Wehmut.
Diese Hütte war mir vertraut, es sah hier so heimelig aus, ganz anders als im Haus des Hohen Rabbi Löw, in dem ich jetzt lebte. Auch die Brombeerbüsche waren mir vertraut, der Pflaumenbaum am Zaun, die Ziege, die Hühner und das Pferd. Nur die Schweine nicht. Am liebsten wäre ich in die Hütte hineingelaufen, hätte die Leute Tante und Onkel genannt und sie umarmt und geküsst. Zugleich aber verstand ich, dass ich jetzt nach Prag gehörte, in die Stadt. Der Blick in die Hütte war wie ein Blick auf meine vergangene Kindheit.
Z wei Menschen saßen am Tisch, ein Mann und eine Frau, er trug eine dunkle Bauernjoppe aus grob gewebtem Stoff, sie einen grauen Kittel, wie Jankel ihn von seiner Tante Schejndl kannte. Die Haare des Mannes waren genauso strohblond wie die des Dieners, den sie vorher in der Scheune beobachtet hatten.
Die Frau hatte ihren Kopf in die Hände gelegt und weinte, der Mann stand auf, stellte sich hinter sie und streichelte ihr unbeholfen über die Haare. »Beruhige dich doch«, sagte er mit sanfter Stimme.
»Beruhigen soll ich mich?«, rief die Frau und hob den Kopf, sodass Jankel ihr Gesicht sah, ein junges, schönes Gesicht, das vom Weinen fleckig und verquollen war. »Wo ist unsere Hanka, sag, wo ist Hanka? Wie sollen wir sie beerdigen, wenn wir überhaupt nicht wissen, wo sie ist? Versteh doch, sie gehört auf unseren Friedhof, wo ihre Großeltern und ihr kleiner Bruder liegen, Gott hab ihn selig. Sag mir, wo ist Hanka? Ich frage dich, wo ist sie?«
Sie sprang auf, klammerte sich an ihren Mann und ihre Stimme wurde immer lauter und verzweifelter, jetzt schrie sie: »Wer tut so etwas? Welcher Unmensch vergreift sich an der Leiche eines unschuldigen Kindes?« Sie schüttelte ihren Mann, der einfach stehen blieb und es sich gefallen ließ. Etwas leiser fügte sie hinzu: »Ich schwöre dir, ich werde keine Ruhe geben, bevor Hanka nicht in geweihter Erde liegt, da, wo sie hingehört.«
Der Mann wollte sie in die Arme nehmen, aber sie wehrte ihn ab. »Warum tust du nichts?«, fuhr sie ihn an und Tränen strömten ihr aus den Augen.
»Was soll ich denn tun?«, fragte er hilflos und wandte sich ab.
»Geh und suche sie«, beschwor ihn die Frau. »Suche Hanka, du musst sie finden.« Dann
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