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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Quecksilberwellen hüpften hin und her, Flöße, mit Baumstämmen beladen, trieben flussabwärts, auf einem anderen saßen Studenten, erkennbar an ihren bunten Mützen, und sangen so laut, dass man es bis herauf auf die Brücke hören konnte. Die Bäuerin hatte sich auf dem Sitz aufgerichtet und wandte den Kopf mal dahin, mal dorthin.
    Der Bauer schaute starr geradeaus, und als Jankel sich vorbeugte, bemerkte er, dass der Mann die Zügel so fest umklammert hielt, dass sich über seinen Fingerknöcheln runde weiße Flecken auf der von Wind und Wetter geröteten Haut bildeten. Immer wieder lenkte er seine Stute, die sich durch das ungewohnte Getöse um sie herum nicht beirren ließ, zur Seite, wenn ihnen eine vornehme Kutsche entgegenkam. Deren Lenker, meist Diener in prächtigen Livreen, machten keine Anstalten, auch nur um eine Handbreit zur Seite zu weichen. Hochmütig waren sie, diese Kutscher; diejenigen, die Vierspänner lenkten, noch hochmütiger als die mit Zweispännern.
    I ch bewunderte die Stute des Bauern. Gegen die gut genährten Prager Kutschpferde, deren Fell mit ihrem Zaumzeug um die Wette glänzte, sah sie armselig und klapprig aus, doch sie hatte sich wacker gehalten, besser, als ich es erwartet hatte. Sie erinnerte mich an Schumele, die alte Stute meines Vaters, die ebenso stetig und unermüdlich laufen konnte, obwohl man es ihr nach Aussehen und Alter nicht zugetraut hätte.
    Es war Mittag, als wir ankamen, und Prag zeigte sich von seiner schönsten Seite. Ich war erleichtert und froh, wieder hier zu sein, ich spürte beim Anblick der Stadt eine Freude, die mich, ehrlich gestanden, selbst verwunderte. Ich empfand sogar Stolz, als ich sah, wie die Frau des Bauern den Kopf von einer Seite zur anderen drehte und sich offenbar nicht sattsehen konnte an all dem Neuen, und ich erinnerte mich daran, wie Rochele und ich gestaunt hatten, als wir das alles zum ersten Mal sahen, damals, als wir angekommen waren. Das Staunen der Bäuerin war wie ein Geschenk, das es mir erlaubte, mein eigenes Staunen ein zweites Mal zu erleben.
    A ls sie die andere Seite der steinernen Brücke erreicht hatten und durch den Brückenturm gefahren waren, zog der Bauer die Zügel an. »Und jetzt?«, fragte er.
    Josef stieg vom Wagen, ungeschlacht, unbeholfen und langsam, nahm das Pferd am Zaumzeug und führte es weiter. Mit langen Schritten lenkte er die Stute so zielsicher, wie Störche im Herbst gen Süden fliegen und wie die Ziegen den Weg zur Tränke finden.
    Als sie in die Straße einbogen, in der sich das Gericht befand, sah der Junge schon von weitem, dass sich Juden vor dem Gebäude zusammendrängten, in ihren schwarzen Mänteln und mit ihren schwarzen Hüten ähnelten sie aus der Ferne einer überdimensionalen Traube aus dicken, schwarzen Beeren. Josef beschleunigte seine Schritte, und die bewundernswerte Stute fiel, obwohl sie schon einen so weiten Weg hinter sich hatte, in einen leichten Trab.
    Dann, als sie sich der Traube näherten, erkannten einige Juden Josef, sie stießen sich gegenseitig an und deuteten auf ihn und einer löste sich aus dem Haufen und stürzte ihnen entgegen. Es war Schmulik, der, während er neben dem Wagen herrannte, aufgeregt rief: »Jankel, dem Ewigen sei Dank, dass ihr gekommen seid. Ihr müsst sofort reingehen! Schnell! Wenn es nicht schon zu spät ist.«
    Der Bauer zog die Zügel an, das Pferd blieb stehen. Jetzt erkannte Jankel auch andere Männer unter den Juden, Reb Zemach Kohen, Reb Jakob Bassevi und sogar den alten Reb Gerschom ben Schlomo, der von einem seiner Söhne gestützt wurde, auch Anschel und Mendel waren da, und neben den anderen drängten sich die Anhänger des Hohen Rabbis, angeführt von Jizchak, dessen schwarze Locken wild nach allen Seiten standen, und von dem bedrückt aussehenden Schimon, der sich immer wieder besorgt an den Schläfenlocken zupfte.
    Hinter den Männern standen die Frauen dicht beieinander, Jankel erkannte Henia, Reb Meisls Köchin, und Mendels Frau Malke mit ihren Töchtern Gittel und Fejgele. Aber Jente war nirgends zu entdecken und auch nach Frume hielt er vergeblich Ausschau.
    Mendel trat vor und griff nach dem Zügel. »Macht schnell, beeilt euch!«, drängte auch er. »Ich kümmere mich um das Pferd, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, geht nur schnell hinein!«
    Sie stiegen vom Wagen. Jankel sah, dass der Bauer Mendel nur widerwillig die Zügel überließ, misstrauisch betrachtete er die bärtigen Juden, die sich jetzt um sie scharten, und

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