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Golem stiller Bruder

Golem stiller Bruder

Titel: Golem stiller Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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man sah ihm deutlich an, dass er am liebsten weggelaufen wäre. Seine Blicke irrten unruhig hin und her, als suche er einen Ausweg, er drehte sich um, doch hinter ihm stand Josef, der jetzt mit unbewegtem Gesicht auf das Tor des Gerichtsgebäudes deutete.
    Die Juden traten zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Unsicher gehorchte der Bauer und stolperte durch den Gang, den die Juden bildeten, auf das Tor zu. Jankel ergriff die Hand der Bäuerin und zog sie mit. Als sie die Soldaten mit ihren gezogenen Schwertern sah, blieb sie verschüchtert stehen, doch Jankel ließ ihre Hand nicht los. Auch ihr Mann war stehen geblieben, aber als Josef ihm die Hand auf die Schulter legte, duckte er sich und ging weiter. Josef folgte ihm, ohne die neugierigen und entsetzten Blicke der Soldaten wahrzunehmen.
    Ein Diener führte sie in die Halle, in der die Gerichtsverhandlung stattfand. Auf der Schwelle blieben sie stehen.
    Hinter dem Richtertisch saß der oberste Richter, Graf Černý, ein schmächtiger, aber üppig herausgeputzter Mann in einem goldbestickten, schwarzen Umhang und mit einer Perücke mit weißen Löckchen auf dem Kopf. An einem anderen, kleineren Tisch, der im rechten Winkel zum Richtertisch aufgestellt war, sah Jankel Reb Meisl sitzen, zusammengesunken, mit einem fahlen Gesicht, ein gebrochener, alter Mann. Neben ihm, streng und würdig, saß Rabbi Löw, und vor dem Tisch, zwischen dem Richter und dem Angeklagten, stand ein hoch gewachsener, stolzer Mann, Doktor Balthasar, der heute, in der Rolle des Verteidigers, ein Wams aus schwarzem Samt trug.
    Der Rabbi flüsterte Doktor Balthasar etwas zu, dieser nickte, drehte sich zum Richter und sagte feierlich: »Hohes Gericht, hier kommen die Zeugen der Verteidigung. Ich bitte den Herrn Richter, sie aussagen zu lassen.«
    Der Richter starrte den riesigen Mann an, der an der Tür stand, und konnte nur mit Mühe den Blick von ihm wenden, doch er fing sich und sagte gnädig: »Sie mögen he reinkommen.«
    Unter vielen Verbeugungen gingen der Bauer und seine Frau, von Jankel geschoben, nach vorn. In gebührender Entfernung vom Richtertisch blieben sie stehen und verbeugten sich wieder, der Mann nahm die Mütze vom Kopf und drückte sie fest an die Brust, die Frau hob ihr Kleid an, so dass man ihre schmutzigen, nackten Füße und einen Teil ihrer Waden sah, und machte einen ungeschickten Knicks.
    Der Richter verzog angewidert das Gesicht. »Was habt ihr zu sagen?«, fragte er. »Warum seid ihr vor Gericht erschienen?«
    Die beiden antworteten nicht, sie waren völlig verschüchtert und hörten nicht auf, sich zu verbeugen.
    Erneut flüsterte der Rabbi seinem Freund etwas zu und dieser nickte wieder. »Hohes Gericht«, sagte Doktor Balthasar, »wenn es Euch recht ist, befragt bitte den Jüngling, er wird alles erklären.«
    Die Miene des Richters war betont gleichgültig, aber Jankel fiel auf, dass er immer wieder verstohlene Blicke zu Josef hinüberwarf. »Das Gericht fordert den Jüngling auf zu sprechen«, sagte er nun.
    M ir wurden die Knie weich, noch nie hatte ich vor so hohen christlichen Herren gesprochen, ich fühlte mich ganz klein und unbedeutend, mir wurde schwarz vor den Augen und meine Stimme versank im Inneren meines Körpers.
    Auf einmal spürte ich, wie Josef mich hochhob und auf seinen Armen schaukelte, ein sanftes, beruhigendes Schaukeln. Er trug mich durch den Wald, er trug mich durch die Stadt, er trug mich hinein ins Gerichtsgebäude, wo er mich vor dem Richter auf den Boden stellte, mit einer unerwartet sanften Bewegung, wie man einen kostbaren Gegenstand abstellt. Ich machte die Augen auf, mein Blick war wieder klar.
    J ankel trat vor und verneigte sich höflich. »Hohes Gericht«, sagte er, »diese beiden anständigen Menschen hier sind der Vater und die Mutter des toten Mädchens, das man im Haus Reb Meisls gefunden hat. Sie können bezeugen, dass ihre Tochter eines natürlichen Todes gestorben ist und nicht ermordet wurde.«
    »Das ist doch gar nicht wahr!«, schrie jemand von der anderen Seite. Jankel drehte sich um. Ein vornehm gekleideter Mann war aufgesprungen und stützte sich auf einen Tisch, an dem der Strohblonde und der Kutscher in der blauen Livree saßen. Der Mann, der sich jetzt mit zornigem Gesicht vorbeugte, musste Kasimir Boskovicek sein. Er war dick, mit einem breiten Kopf, der fast halslos auf dem Rumpf saß, und mit einem feisten Gesicht, in dem kleine Schweinsaugen funkelten.
    Jankel blickte schnell zu dem Bauern und seiner Frau

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