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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Lärm war unerträglich, er versank darin –, und dann fiel er auf die Knie und schrie zusammenhangloses Zeug. Schaum bildete sich vor seinem Mund. Jetzt packten ihn Ärzte und Männer in Uniform, zogen ihm die Augenlider zurück und schoben ihm einen Ledergürtel in den Mund. Das Letzte, was er sah, bevor sie ihn in eine Zwangsjacke steckten und nach Swinburne brachten, war der alte Mann, der vor dem verlassenen Schreibtisch stehen blieb, sich selber seine Papiere stempelte und dann in der Menge auf der anderen Seite untertauchte.
     
    Der Beamte von der Einwanderungsbehörde blickte auf die Papiere in seiner Hand und dann zu dem Mann, der vor ihm stand. Er sah definitiv älter als vierundsechzig aus, aber er hatte ein verwittertes Bauerngesicht, und das hieß, dass er alles unter hundert sein konnte.
    »In welchem Jahr sind Sie geboren?« Auf der anderen Seite des Schreibtisches beugte sich der Jiddisch-Dolmetscher hinunter und murmelte dem alten Mann etwas ins Ohr.
Achtzehnhundertfünfunddreißig
, lautete die Antwort. Der Rücken des Mannes war gerade, seine Augen waren klar, und der Stempel der Gesundheitsuntersuchung trocknete noch auf dem Papier. Er hatte bereits seine Brieftasche vorgezeigt, die zwanzig amerikanische Dollar und ein paar Münzen enthielt. Genug, um anderen nicht zur Last zu fallen. Es gab keinen Grund, ihn nicht einreisen zu lassen.
    Da war allerdings noch der Name. »Wir geben Ihnen einen amerikanischeren Namen«, sagte er. »Das ist besser.« Und während der alte Mann zusah und immer verwirrter dreinblickte, strich der Beamte
Yehudah Schaalman
durch und schrieb darüber in großen schwarzen Buchstaben
Joseph Schall.

Kapitel  13
    D ie Weihnachtszeit brach mit voller Pracht und all ihren Festlichkeiten über Little Syria herein. Arbeely schien plötzlich ständig in der Kirche zu sein. »Ich gehe zu den Weihnachtsnovenen«, sagte er zum Dschinn. Oder: »Wir feiern die Unbefleckte Empfängnis.« Oder: »Heute ist Josefs Traum.« »Aber was
bedeutet
das alles?«, fragte der Dschinn. Und Arbeely gab dem Dschinn mit einem Gefühl großer Angst eine Kurzfassung von Christi Leben und der Gründung Seiner Kirche. Darauf folgte ein langer, verwickelter, bisweilen erbitterter Streit.
    »Mal sehen, ob ich richtig verstanden habe«, unterbrach der Dschinn an einer Stelle. »Du und deine Verwandten glaubt, dass ein Geist, der im Himmel lebt, eure Wünsche erfüllen kann.«
    »Das ist eine grobe Vereinfachung, und das weißt du auch.«
    »Und trotzdem gibt es uns Dschinn eurer Meinung nach nur in Ammenmärchen.«
    »Das ist was anderes. Im Moment geht es um Religion und Glauben.«
    »Und wo genau liegt der Unterschied?«
    »Fragst du aus aufrichtiger Neugier oder weil du mich beleidigen willst?«
    »Aus aufrichtiger Neugier.«
    Arbeely hielt eine fertige Bratpfanne in einen Bottich mit Wasser – mittlerweile hatten sie beide Bratpfannen aus ganzem Herzen satt – und wartete, bis sich der Dampf verzogen hatte. »Glaube heißt, an etwas glauben, auch wenn man keinen Beweis dafür hat, weil man im Innersten weiß, dass es stimmt.«
    »Ich verstehe. Und bevor du mich aus der Flasche befreit hast, hast du
im Innersten gewusst
, dass Dschinn nicht existieren?«
    Arbeely runzelte die Stirn. »Ich hätte es für sehr, sehr unwahrscheinlich gehalten.«
    »Und schau mich an. Hier stehe ich und mache Bratpfannen. Veranlasst dich das nicht, deinen Glauben in Zweifel zu ziehen?«
    »Ja! Schau dich an! Du bist der lebende Beweis, dass etwas, was man Aberglauben nennt, nicht notwendigerweise Aberglauben sein muss!«
    »Aber mich gibt es schon immer. Dschinn vermeiden es, gesehen zu werden, aber das heißt nicht, dass wir Phantasiewesen sind. Und wir wollen definitiv nicht angebetet werden. Außerdem«, sagte er genussvoll – er hatte sich dieses Argument für den richtigen Augenblick aufgehoben – »hast du selbst gesagt, dass du manchmal unsicher bist, ob es Gott wirklich gibt.«
    »Das hätte ich niemals sagen dürfen«, murmelte Arbeely. »Ich war betrunken.«
    Um zu feiern, dass ihre Geschäfte immer besser liefen, hatte Arbeely eines Abends beschlossen, seinen Lehrling mit Arrak bekannt zu machen. Der Anisschnaps hatte keinerlei Wirkung auf den Dschinn, aber er fand den Geschmack angenehm und die plötzliche Wärme, die er in seinem Bauch verbreitete. Er war fasziniert, wie sich die Farbe des Arraks veränderte, als Arbeely etwas Wasser in das kleine Glas goss und die klare Flüssigkeit wolkig weiß

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