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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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befinden, keine Knochen, keine Muskeln oder Nerven: Sie war durch und durch aus Lehm.
    Sie zog eine Nadel mit den Fingernägeln heraus. Bald darauf hatte sich das Loch von selbst geschlossen. Sie zog eine weitere Nadel heraus und blickte auf die Uhr: Es dauerte nur drei Minuten, bis von dem Loch nichts weiter übrig war als ein dunkler Punkt. Was, wenn das Loch größer wäre? Sie nahm die Nadel und steckte sie direkt neben einer anderen in den Arm, sodass ein doppelt so großes Loch entstand. Ihr Unbehagen wuchs, aber sie ignorierte es. Dann zog sie beide Nadeln heraus und sah zu. Es dauerte acht Minuten, bis das Loch vollständig geschlossen war.
    Wie interessant! Aber was, wenn sie ein Loch aus drei oder vier Nadeln machte? Oder sie konnte etwas anderes benutzen, etwas Breiteres – die kleine Schere! Sie nahm sie aus dem Nähkörbchen, schloss die Faust darum und hielt sie wie einen Dolch über ihr Handgelenk, bereit, zuzustoßen.
    Doch dann legte sie die Schere langsam, als wollte sie sich nicht erschrecken, wieder weg. Was um alles in der Welt tat sie da? Sie hatte keine Ahnung, wie viel ihr Körper ertragen konnte, wie weit sie es mit ihm treiben konnte. Was, wenn sie sich für immer verstümmelt hätte? Und selbst wenn sich das Loch wieder geschlossen hätte, was hätte sie als nächstes getan? Würde sie sich aus Langeweile einen Arm abschneiden? Sinnlos sich zu sorgen, dass andere sie entdecken und zerstören könnten. Sie hätte sich bald Stück für Stück selbst zerstört.
    Sie zog alle Nadeln aus ihrem Arm und steckte sie wieder ins Nadelkissen. Bald war nur noch ein schwaches Gitter aus Punkten zu sehen. Sie blickte auf die Uhr. Erst zwei Uhr morgens. Sie hatte noch Stunden vor sich. Und ihre Finger begannen bereits zu zucken.
    Wie lange konnte sie so weitermachen? Jahre, Monate, Wochen? Tage?
Du wirst bald verrückt werden
, sagte eine Stimme in ihrem Kopf,
und alles in Gefahr bringen.
    Ihre Hand wollte nach dem Medaillon fassen und hielt auf halber Höhe inne. Sie schüttelte zerstreut den Kopf. Dann zog sie den Umhang fester um sich und schaute hinaus auf die Straße.
    Auf dem Gehweg ging der glühende Mann auf ihre Pension zu.
    Sie traute ihren Augen nicht. Was tat er in ihrer Straße? War er ihr in jener Nacht nach Hause gefolgt? Nein. Vielleicht war es Zufall, und er wollte woandershin.
    Argwöhnisch sah sie zu, wie er näher kam. Er trug einen dunklen Mantel, aber keinen Hut, trotz der frostigen Kälte. Er wurde langsamer und blieb vor der Pension stehen. Er schaute sich um, als wollte er kontrollieren, ob ihn jemand beobachtete. Dann hob er den Kopf und sah direkt zu ihrem Fenster hinauf.
    Ihre Blicke trafen sich.
    Sie sprang vom Fenster zurück und stieß beinahe gegen ihr Bett. Sie war entdeckt, zur Strecke gebracht worden! Sie umklammerte ihr Medaillon, wartete auf das Hämmern an der Tür, den wütenden Mob.
    Aber alles blieb still auf der Straße. Niemand klopfte an ihre Tür, keine wütende Welle schwappte über sie hinweg.
    Sie schlich zurück zum Fenster und spähte hinaus. Er war noch da, lehnte an einem Laternenpfahl. Während sie hinunterschaute, drehte er sich eine Zigarette und zündete sie an – nicht etwa mit einem Streichholz, er berührte einfach das Ende mit der Fingerspitze und inhalierte. Und alles, ohne zu ihr emporzublicken. Er war sich sicher, dass sie zuschaute. Und er
gefiel
sich in seiner Rolle.
    Ihre Panik ebbte ab, und Zorn stieg in ihr auf. Wie konnte er es wagen, ihr nach Hause zu folgen? Woher nahm er das Recht? Andererseits – wie oft hatte sie daran gedacht, zur Washington Street zu gehen und ihn zu suchen? Und jetzt war er hier, stand unter ihrem Fenster, und sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.
    Fast eine Stunde lang schaute sie zu, wie er dastand, sichtbar für alle Welt, als hätte er nichts Besseres zu tun, als die Laterne aufrecht zu halten und Zigaretten zu rauchen. Den wenigen Passanten, die alle auf seinen hutlosen Kopf und den dünnen Mantel blickten, nickte er zu.
    Dann, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, holte er etwas aus der Manteltasche. Es hatte ungefähr die Größe eines Apfels, wenn auch nicht ganz so rund, und glitzerte im schwachen Licht der Gaslaterne. Er hielt es in Händen, und ein paar Sekunden lang strahlten sie so hell, dass das Hinsehen fast schmerzte. Dann holte er aus einer anderen Tasche einen langen dünnen Stock, der am Ende so spitz wie eine Nadel war. Er hielt den Gegenstand hoch, betrachtete ihn und

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