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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Papier ganz zu entfalten. Jetzt fragte sie sich, ob der Rabbi überhaupt beabsichtigt hatte, ihr den Umschlag zu geben. Hätte er dann nicht zumindest ihren Namen darauf geschrieben oder seinen Inhalt irgendwie besser verborgen? Doch diese Spekulationen waren sinnlos; sie würde es nie erfahren. Kurz dachte sie daran, ihn zu verbrennen, aber bei dem Gedanken umklammerten ihre Finger ihn nur noch fester. Was immer die Absichten des Rabbis gewesen sein mochten, der Umschlag war in ihre Hände gelangt, und sie konnte ihn nicht vernichten.
    Es blieb die Frage, wo sie ihn aufbewahren sollte. Sie durfte ihn nicht in der Pension lassen. Ihre Vermieterin könnte ihn finden, das Haus könnte abbrennen. Die Bäckerei war noch riskanter. Am besten schien es ihr, ihn bei sich zu tragen. Und so nahm sie etwas Geld aus der Keksdose unter ihrem Bett, ging zu einem Juwelier und kaufte ein großes Medaillon aus Messing, das an einer langen stabilen Kette hing. Das Medaillon war schlicht und länglich mit abgerundeten Ecken. Darin war gerade genug Platz für den zusammengefalteten Zettel. Sie schloss das Medaillon, hängte sich die Kette um den Hals und schob es unter die Bluse. Der Kragen war hoch genug, um die Kette fast vollständig zu verbergen; man musste schon genau hinschauen, um sie an ihrem Nacken durchschimmern zu sehen. Während sie jetzt in das Schneetreiben hinausschaute, spürte sie das Medaillon auf ihrer Haut, kühl und geheimnisvoll. Es war eine merkwürdige Empfindung, doch sie gewöhnte sich bereits daran. Bald, so dachte sie, würde sie es kaum mehr bemerken.

    Am letzten Abend der Schiwe stand Michael Levy im Wohnzimmer seines Onkels in einer Ecke und hörte zu, wie das Kaddisch noch einmal gesprochen wurde. Sein trauriger wiegender Rhythmus ging ihm seit der Beerdigung nicht mehr aus den Ohren. Er fühlte sich krank. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn; er schwitzte sogar in der kalten Wohnung. Die Männer im Wohnzimmer bildeten eine Mauer aus schwarzen Mänteln, ihre Jarmulken hüpften auf und ab, während sie mit tiefen quäkenden Stimmen den Singsang anstimmten.
    Auf dem Friedhof in Brooklyn hatte er vor dem offenen Grab gestanden und eine Handvoll gefrorener Erde aufgehoben, dann den Arm gestreckt und die Hand geöffnet. Die gefrorenen Klumpen waren mit einem trockenen hohlen Laut auf den schlichten Fichtensarg gefallen. Der Sarg war ihm zu klein vorgekommen, zu weit entfernt wie etwas auf dem Grund eines Brunnens.
    Möge Gott dich mit allen Trauernden Zions und Jerusalems trösten.
Die vorgeschriebenen Worte der Trauer, die Worte, die ihm im Flur für Chava über die Lippen gekommen waren: Er hatte sie während der letzten Tage Dutzende Male gehört, und allmählich begannen sie, ihm auf die Nerven zu gehen. Warum »mit allen Trauernden Zions und Jerusalems«? Warum nicht »mit allen Trauernden der Welt«? So provinziell, so kleingeistig. Als wäre der uralte Verlust des Tempels der einzige Verlust von Bedeutung und als wären andere Verluste nur ein Nachklang von diesem. Er wusste, dass die Trauernden daran erinnert werden sollten, dass sie noch immer Teil einer Gemeinde waren und unter den Lebenden weilten. Aber Michael hatte seine eigene Gemeinde: seine Freunde aus der Schule, seine Kollegen im Wohnheim, seine Brüder und Schwestern in der Sozialistischen Arbeiterpartei. Er brauchte diese frommen Fremden nicht. Ihre schrägen Blicke, die dem abtrünnigen Neffen galten, hatte er wohl bemerkt.
Sollen sie doch über mich urteilen
, dachte er. Es war der letzte Abend. Sie wären einander bald los.
    Die Männer mit den schwarzen Hüten kamen und gingen. Sie standen neben dem Wohnzimmertisch und aßen hartgekochte Eier und Brotscheiben und unterhielten sich leise. Ein paarmal sah Michael, wie ältere Rabbis, Männer, an die er sich vage als Freunde seines Onkels erinnerte, das Bücherregal abschritten, als suchten sie etwas. Als sie das Ende des Regals erreichten, runzelten sie enttäuscht die Stirn, schauten sich schuldbewusst um und gingen weiter. Suchten sie wertvolle Bücher, die sie an sich nehmen wollten? Berufliche Begehrlichkeiten sogar bei der Schiwe? Er grinste, ohne sich zu freuen. So viel zur reinen Trauer.
    Nun, sie konnten alles haben. Er war der designierte Erbe des wenigen, was da war, aber er wollte das meiste verschenken. Für die Möbel hatte er keinen Platz, für die religiösen Dinge keine Verwendung. Er ging mit einer Kiste durch die kleine Wohnung und legte hinein, was er behalten

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