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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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ihre rastlosen Glieder ließen es nicht zu. Als sie hastig wieder aufstand, hätte sie beinahe die Bettwäsche zerrissen.
    An Samstagen, ihren freien Tagen, kämpfte sie gegen die Steifheit, indem sie die Grenzen ihres Viertels abschritt, immer wieder die allzu bekannten Straßen auf und ab.
Rivington Street, Delancey, Broome, Grand, Hester, Forsyth, Allen, Eldridge, Orchard und Ludlow Street.
In ein paar Fenstern waren Fichtenkränze und rote Samtschleifen aufgetaucht; sie wusste, dass sie mit irgendwelchen Feiertagen zu tun hatten, aber das war eine Angelegenheit der Nichtjuden und ging sie nichts an. Sie kam an den zahllosen Synagogen vorbei, an Versammlungen in bescheidenen Läden und an den großen Gebäuden in der Eldrigde und der Rivington Street. Vor jeder Synagoge spürte sie, wie die Gebete ihren Sog bis auf die Straße entfalteten, wie ein tiefer Fluss mit mächtiger Strömung. Manchmal war er so stark, dass sie die Straße überqueren musste, wenn sie nicht riskieren wollte, darin unterzugehen. Jetzt begriff sie, warum der Rabbi sie nie in einen Gottesdienst mitgenommen hatte. Für sie wäre es, als würde sie ein Hurrikan erfassen.
    An der westlichen Grenze ihres Viertels blieb sie jedes Mal stehen und blickte den Block entlang zur Bowery. Die Straße war eine Art Grenzland für sie, ein Tor in die riesige gefährliche Weite der Stadt. Sie war nur einmal darüber hinausgekommen – an dem Abend, als sie dem glühenden Mann begegnet war.
    Sie fragte sich, wo er war. Spürte er die Kälte wie sie? Oder konnte er sie einfach vertreiben, indem er heftiger brannte?
    Hin und her marschierte sie und hätte am liebsten die Sonne am Untergehen gehindert. Aber die Erde bestand darauf, sich zu drehen, und bald war sie wieder zu Hause und wappnete sich für die Nacht. Da es sie langweilte, ihr einziges Kleid immer wieder neu zu nähen, hatte sie angefangen, Kleider von anderen zu flicken oder zu ändern. Ihre Kundinnen waren meist auch Pensionsgäste, Sekretärinnen und Buchhalterinnen, die nie gelernt hatten, einen Faden einzufädeln. Sie hielten sie für unbeholfen und altjungfernhaft, wenn sie überhaupt einen Gedanken an sie verschwendeten; doch auch sie bemerkten die Präzision ihrer Stiche, die nahezu unsichtbaren Flickstellen. Die Frauen empfahlen sie ihren Freundinnen, und bald hatte sie mehr als genug Arbeit, um ihre Finger zu beschäftigen, wenn auch nicht ihre Gedanken.
    Als sie an einem besonders kalten Abend einen Riss in einer Hose flickte, fiel ihr die Nadel aus den steifen Fingern. Sie versuchte sie aufzufangen, griff daneben, und die Nadel war verschwunden. Sie tastete die Hose ab, ihre eigenen Kleider, den Boden, konnte sie jedoch nicht finden. Schließlich blitzte etwas im Kerzenlicht auf: Da war sie. Sie steckte bis zur Hälfte in ihrem rechten Unterarm.
    Sie schaute verdutzt genauer hin. Wie war das passiert? Sie hatte sie aus Versehen in ihren Arm getrieben und es nicht einmal gemerkt!
    Vorsichtig zog sie die Nadel aus ihrem Arm und schlug den Ärmel zurück. Sie sah ein winziges dunkles Loch, der Rand leicht erhoben, wo die Nadel den Lehm verdrängt hatte. Sie drückte mit dem Daumen auf die Stelle und empfand ein kurzes Unbehagen. Doch der Stich schloss sich bereits, Lehm füllte das winzige Loch; und als sie den Daumen wieder wegnahm, war fast nichts mehr zu sehen.
    Sie war fasziniert. Bisher hatte sie ihren Körper für unveränderlich gehalten. Sie bekam keine blauen Flecken, wenn sie gegen den Arbeitstisch stieß, und verstauchte sich nie den Knöchel auf dem Eis, wie es Mrs. Radzin passiert war. Ihr Haar wuchs nicht. Aber das hier war etwas Neues, Unbekanntes.
    Ihr Blick fiel auf das Nadelkissen aus Satin und auf die vielen langen silbernen Stecknadeln.
    Innerhalb von Minuten hatte sie sie alle unterschiedlich tief in ihren Arm gestochen, manche fast bis zum Kopf. Sie brauchte große Kraft dazu. Der Lehm, aus dem sie gemacht war, war kräftig und dicht und gab nicht leicht nach. Nachdem sie sich den Daumen an den Nadelköpfen eingedellt hatte, zog sie einen Stiefel aus und benutzte ihn als Hammer.
    Schließlich betrachtete sie ihr Werk und berührte jede einzelne Stecknadel. Sie hatte sie in Form eines akkuraten Gitters in ihren linken Unterarm getrieben, vom Handgelenk bis zum Ellbogen. Alle saßen fest. Sie ballte ihre Hand zur Faust, öffnete sie wieder und spürte, wie sich der Lehm um die Nadeln nahe ihrem Handgelenk zusammenzog. Es schien sich keine andere Struktur darunter zu

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