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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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werden, alle hatten die Regeln zu befolgen – und stehe ihnen zur Verfügung, sollten sie ihn noch einmal brauchen. Sie küssten seine Wangen wie dankbare Töchter. Später am Abend holte Schaalman die vermisste Liste unter seiner Matratze hervor und brachte sie zurück ins Büro, wo er sie zwischen die Seiten einer Zeitung legte.
    Am nächsten Tag bot er an, bei der Aufnahme der Neuankömmlinge zu helfen. Während die Frauen die Namen abhakten und hin und her eilten, führte er die Männer zu ihren Pritschen und erklärte ihnen die Vorschriften des Hauses. Nachdem alles erledigt war, baten ihn die Frauen ins Büro, wo sie ihm ein Glas Schnaps reichten.
    »Was Mr. Levy nicht weiß, macht ihn nicht heiß«, flüsterte die Haushälterin und strich Joseph Schall von der Auszugsliste für den nächsten Tag.
    Im Laufe der folgenden Woche konsolidierte Schaalman seine Position. Er räumte den Aufenthaltsraum auf, faltete die Zeitungen zusammen und füllte die Teekanne auf. Zu den Essenszeiten kontrollierte er die Schlange und teilte der Köchin mit, wie viele Männer noch warteten. Er schien überall gleichzeitig zu sein, half hier und dort, schlichtete sogar die läppischen Streitigkeiten der Männer.
    Wenn er sich nicht gerade in die Routinen des Wohnheims einschlich, war er unterwegs und schaute sich das Viertel an. Zu Beginn hatte ihn das Leben auf den Straßen, das brodelnde Durcheinander von Menschen, Fuhrwerken und Tieren überwältigt; doch nach einer Woche reihte er sich nahtlos in die Menschenmenge ein, ein weiterer alter Jude in einem dunklen Mantel. Er ging stundenlang herum, merkte sich die Straßen und die Geschäfte, die Grenzen des Viertels, wo das Jiddisch von den Schaufenstern verschwand. Er machte sich im Geist eine Liste von den größten orthodoxen Synagogen, in denen es aller Wahrscheinlichkeit nach anständige Bibliotheken gab. Dann kehrte er rechtzeitig ins Wohnheim zurück, um dabei zu helfen, die nächste Gruppe Neuankömmlinge aufzunehmen.
    Die Köchin reservierte das beste Essen für ihn, dicke Essiggurken und ganze Stücke Pastrami. Die Haushälterin nannte ihn einen vom Himmel gesandten Engel und versorgte ihn mit zusätzlichen Decken. Und unter seiner Pritsche schlummerte währenddessen das fragmentarische Buch in seinem abgenutzten Koffer. Wäre einer seiner Mitbewohner darauf gestoßen, hätte er nichts Auffälliges gesehen – nur ein altes, zerfleddertes Gebetsbuch.

    Ein paar Minuten nach Mitternacht tauchte der Dschinn unter dem Fenster des Golems auf. Seit fast einer Stunde schritt sie auf und ab – sie wusste, dass die Nachbarn sie hören würden, aber sie konnte nicht anders, ihr ganzer Körper schmerzte vor Kälte und ängstlicher Anspannung. Am Fenster blieb sie jedes Mal stehen und schaute hinaus. Würde er wie angekündigt kommen? Wäre es besser, wenn er es nicht täte? Und was war in sie gefahren, dass sie mit seinem Plan einverstanden gewesen war?
    Als sie ihn endlich sah, war sie sofort erleichtert und hatte zugleich ein ungutes Gefühl. Sie war so aufgelöst, dass sie die halbe Treppe hinuntergelaufen war, bis sie merkte, dass sie Umhang und Handschuhe vergessen hatte, und zurückgehen musste, um sie zu holen.
    »Du bist gekommen«, sagte sie, als sie auf der Straße vor ihm stand.
    Er zog eine Augenbraue in die Höhe. »Hast du daran gezweifelt?«
    »Du hättest es dir anders überlegen können.«
    »Und du hättest nicht herunterkommen können. Aber nachdem wir beide da sind, habe ich mir gedacht, dass wir in den Madison Square Park gehen könnten. Bist du damit einverstanden?«
    Der Name des Parks sagte ihr nichts, und auf gewisse Weise waren alle möglichen Ziele gleich: unbekannte Orte, unbekannte Risiken. Sie hatte zwei Möglichkeiten. Sie konnte zustimmen oder in die Pension zurückgehen.
    »Ja«, sagte sie. »Gehen wir.«
    Und ohne weitere Diskussion gingen sie die Hester Street entlang. Plötzlich hätte sie am liebsten laut gelacht. Sie war draußen, sie ging spazieren! Ihre Beine waren so steif, dass ihre Gelenke nahezu knarzten, aber die Bewegung fühlte sich köstlich an, als würde sie endlich eine schon lange juckende Stelle kratzen. Er schritt rasch aus, aber sie hielt mühelos mit ihm mit. Er bot ihr nicht an, sich bei ihm unterzuhaken, wie sie es bei anderen Männern gesehen hatte, und sie war froh darüber. Sie hätten sonst langsamer und zu nahe nebeneinander gehen müssen.
    An der Chrystie Street wandte er sich nach Norden, und sie folgte ihm. Sie

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