Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
zustößt, lebe ich noch mal fünf- oder sechshundert Jahre.«
»Dann bist du für deine Art auch jung.«
»Nicht so jung wie manche andere«, sagte er lächelnd.
Sie runzelte die Stirn. »Du wirfst mir mein Alter vor?«
»Nein, aber es erklärt viel. Deine Ängstlichkeit zum Beispiel.«
Darüber regte sie sich auf. »Ich entschuldige mich nicht dafür, dass ich vorsichtig bin. Ich muss es sein. Genau wie du.«
»Ja, aber man kann vorsichtig und man kann übervorsichtig sein. Schau uns an. Wir gehen nachts durch einen Park, weit weg von zu Hause. Und trotzdem fällt der Mond nicht vom Himmel, und die Erde bebt auch nicht.«
»Nur weil bislang nichts passiert ist, heißt das nicht, dass nicht noch etwas passieren
wird.
«
Er lächelte. »Stimmt. Vielleicht werde ich dann überrascht sein. Und du kannst darauf bestehen, dass du recht gehabt hast.«
»Das wäre nur ein kleiner Trost.«
»Bist du immer so humorlos?«
»Ja. Treibst du einen immer so zur Verzweiflung?«
Er kicherte. »Du solltest Arbeely kennenlernen. Ihr würdet euch wunderbar verstehen.«
Darüber musste sie lächeln. »Du erwähnst ihn häufig. Magst du ihn sehr?«
Sie hatte erwartet, dass er seinen Freund in den höchsten Tönen loben würde, doch er sagte nur: »Der Mann meint es gut. Und er hat mir geholfen, so viel steht fest.«
»Aber?«, hakte sie nach.
Der Dschinn seufzte. »Ich bin ihm weniger dankbar, als ich eigentlich sein sollte. Er ist ein guter und großzügiger Mensch, aber ich bin es nicht gewohnt, auf andere angewiesen zu sein. Dabei komme ich mir schwach vor.«
»Wie kann es eine Schwäche sein, wenn man auf andere angewiesen ist?«
»Was sollte es sonst sein? Wenn Arbeely morgen aus irgendeinem Grund sterben sollte, wäre ich gezwungen, eine andere Arbeit zu finden. Ich hätte keine Kontrolle über das Ereignis, aber ich wäre auf Gedeih und Verderb davon abhängig. Ist das keine Schwäche?«
»Vermutlich schon. Aber wenn man deinen Maßstab anlegt, ist jeder schwach. Warum sollte man es Schwäche nennen, wenn die Dinge nun mal so sind?«
»Weil es früher anders war!«, sagte er mit plötzlicher Heftigkeit. »Ich war von niemandem abhängig! Ich habe mich bewegt, wie ich wollte, und habe gemacht, was ich wollte. Ich habe kein Geld, keinen Arbeitgeber, keine Nachbarn gebraucht. Nicht dieses ständige
Guten Morgen
und
Wie geht es Ihnen
, ob einem nun danach ist oder nicht.«
»Aber warst du nie einsam?«
»Doch, manchmal. Aber dann habe ich meine Artgenossen gesucht und mich eine Weile in ihrer Gesellschaft aufgehalten. Und wenn es genug war, haben sich unsere Wege wieder getrennt.«
Sie versuchte, es sich vorzustellen: ein Leben ohne Arbeit oder Nachbarn, ohne die Bäckerei, die Radzins, Anna. Ohne vertraute Gesichter, ohne einen geregelten Tagesablauf. Das kam ihr schrecklich vor, und sie sagte: »Ich glaube, Golems sind nicht für diese Art Unabhängigkeit geschaffen.«
»Das sagst du nur, weil du keine andere Lebensweise kennst.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du hast mich falsch verstanden. Jeder Golem wird erschaffen, um einem Meister zu dienen. Als ich erwachte, war ich bereits an meinen Meister gebunden. An seinen Willen. Ich habe jeden seiner Gedanken gehört, und ich habe ihm, ohne zu zögern, gehorcht.«
»Das ist furchtbar«, sagte der Dschinn.
»Für dich vielleicht. Für mich war es so, wie es sein musste. Und als er starb – als ich an niemand mehr gebunden war –, hatte ich keinen Lebenssinn mehr. Jetzt bin ich an
alle
gebunden, wenn auch nur ein wenig. Ich muss dagegen ankämpfen, ich kann nicht alle Wünsche erfüllen. Aber wenn ich in der Bäckerei, in der ich arbeite, jemandem einen Laib Brot gebe, erfüllt das ein Bedürfnis. Und einen Augenblick lang ist diese Person mein Meister, und in diesem Augenblick bin ich zufrieden. Wenn ich so unabhängig wäre, wie du es gern wärst, dann hätte ich das Gefühl, überhaupt keinen Daseinszweck zu haben.«
Er runzelte die Stirn. »Warst du so glücklich, als du von einem anderen beherrscht wurdest?«
»Glücklich ist nicht das richtige Wort«, sagte sie. »Es hat sich
richtig
angefühlt.«
»Na gut, dann will ich dir folgende Frage stellen. Wenn du durch einen Zufall oder durch Zauberei deinen Meister wiederhaben könntest, würdest du dir das wünschen?«
Die Frage lag auf der Hand, aber sie hatte sie sich nie gestellt. Sie hatte Rotfeld kaum gekannt, sodass sie nicht genau wusste, was für ein Mann er gewesen war. Aber konnte sie es sich
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