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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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wäre heute mein Vater der Scheich.«
    »Wäre dein Leben dann anders?« Er konnte dem Gerede von Stämmen, Clans und Scheichs nicht ganz folgen, doch ihr liebevoller Tonfall und Blick faszinierten ihn.
    Sie lächelte. »Wenn mein Vater der Scheich wäre, würde es mich nicht geben! Er wäre einer anderen Frau aus einem bedeutenderen Clan als dem meiner Mutter versprochen worden.«
    »Versprochen worden?«
    »Mit ihr verlobt worden. Der Vater meines Vaters und der Vater meiner Mutter haben es ausgemacht, als meine Mutter geboren wurde.« Sie sah seine Verwirrung und kicherte. »Heiraten Dschinn nicht? Hast du keine Eltern?«
    »Natürlich haben wir Eltern«, sagte er. »Wir müssen ja
irgendwoher
kommen. Aber verloben, heiraten – nein, so etwas kennen wir nicht. Wir sind viel freier in unseren Gefühlen.«
    Sie riss die Augen auf, als er das sagte.
    »Du meinst … man kann mit
jedem

    Er lachte über ihren erstaunten Gesichtsausdruck. »Mir gefallen Frauen, doch ja, im Prinzip ist es so, wie du sagst.«
    Sie wurde rot. »Und mit …
Menschen
frauen?«
    »Bislang noch nicht.«
    Sie blickte weg. »Ein Beduinenmädchen, das so etwas tut, wird verstoßen.«
    »Eine harte Strafe dafür, dass man seinen natürlichen Bedürfnissen folgt«, sagte er. Die Sache wurde immer spannender – nicht die menschlichen Vorstellungen, die lächerlich, rigide und überflüssig waren, sondern ihre Unterhaltung und wie das Mädchen errötete, wenn er eine simple Tatsache auch nur erwähnte.
    »So sind wir eben«, sagte sie. »Unser Leben wäre viel schwieriger, wenn wir uns wegen Affären und Eifersüchteleien Gedanken machen müssten. Ich glaube, so ist es besser.«
    »Und du?«, fragte er. »Bist du auch jemandem versprochen? Oder wirst du dir deinen Mann selbst aussuchen?«
    Sie zögerte. Er spürte, dass ihr das Thema unangenehm war. Und dann – ein heftiger Ruck, als würde die Erde unter ihnen beben.
    Fadwa klammerte sich an ihr Kissen. »Was war das?«
    Es war Morgen. Er war zu lange geblieben. Jemand versuchte, sie zu wecken.
    Noch eine Erschütterung. Er fasste ihre Hand und drückte sie kurz an seine Lippen. »Bis zum nächsten Mal«, sagte er und ließ sie gehen.
     
    Jemand rief ihren Namen. Sie schlug die Augen auf – aber waren sie nicht schon offen gewesen? –, und da stand ihre Mutter, die sich über sie neigte.
    »Mädchen, was ist mit dir? Bist du krank? Ich musste dich schütteln und rütteln.«
    Fadwa schauderte. Einen Augenblick lang hatte sich das Gesicht ihrer Mutter verdüstert, waren ihre Augen zu dunklen Löchern geworden.
    Eine heiße Brise wehte durchs Zelt. Davor plötzlich Lärm: Die Ziegen meckerten in ihrem Pferch. Ihre Mutter schaute sich um, und als sie sich ihr wieder zuwandte, sah Fadwa ihr normales Gesicht, die tiefen sonnenverbrannten Furchen, und ihre Verwirrung.
    »Steh jetzt auf, Mädchen! Die Ziegen müssen gemolken werden, hör nur!«
    Fadwa setzte sich auf und rieb sich das Gesicht, rechnete halb damit, im Glaspalast zu erwachen, als wäre er die Wirklichkeit und das Zelt der Traum. Den ganzen Morgen über schloss sie während der Arbeit immer wieder die Augen und stellte sich vor, sie wäre dort, spürte seine Lippen auf ihrer Hand und das Glühen, das sich daraufhin weit unten in ihrem Bauch ausgebreitet hatte.

Kapitel  15
    D er Golem stand auf einem Friedhof in Brooklyn vor einer länglichen Aufschüttung frisch umgegrabener Erde. Hinter dem Grab befand sich ein Stein mit Elsa Meyers Namen und Daten auf einer Hälfte. Die andere Seite war leer, als wäre die schreckliche Nachricht noch nicht bis zu ihr vorgedrungen.
    Michael Levy hatte sie hierhergebracht, und jetzt stand er hinter ihr, versunken in Trauer und Schuldgefühlen. Ein paar Tage zuvor war er gegen Ladenschluss in die Bäckerei gekommen und hatte sich dafür entschuldigt, dass er sie nicht früher besucht hatte. »Ich war ein paar Wochen in Swinburne«, sagte er. »Ich hatte Grippe.«
    Sie wusste, dass es stimmte, aber Michael sah gesünder aus als je zuvor. Seine Wangen waren leicht gerötet und die dunklen Ringe unter seinen Augen verblasst. Die Augen selbst jedoch blickten schwermütig und betrübt, sie waren zu alt für sein Gesicht. Michael hatte die Augen seines Onkels.
    Er sagte: »Ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie irgendetwas brauchen. Ich weiß nicht, ob mein Onkel Ihnen mit Geld ausgeholfen hat, aber ich kenne ein paar Leute beim Hilfsverein für jüdische Immigranten …«
    »Danke, Michael, aber

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