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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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habe ich noch nie darüber nachgedacht.« Sie blickte von ihm weg, fühlte sich schuldig und verlegen.
    Sie hörten die Schritte zur gleichen Zeit. Zwei Polizisten liefen auf sie zu, ihre wollenen Wintermäntel schlugen gegen die Stiefel. Auf dem leeren Platz, auf dem sie ganz allein waren, traf ihre Besorgnis den Golem nahezu wie ein physischer Schlag.
    »Abend, Miss«, einer der beiden hob die Hand an seine Kappe. »Belästigt Sie dieser Mann?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Es tut mir leid, Sie hätten nicht kommen müssen.«
    »Sie haben schrecklich laut geschrien, Miss.«
    »Es war meine Schuld«, gestand der Dschinn. »Ich habe etwas gesagt, was ich nicht hätte sagen sollen.«
    Die Polizisten blickten von einem zum anderen und versuchten, die Lage zu eruieren: ein Mann und eine Frau, eindeutig keine Stadtstreicher, um diese Uhrzeit unterwegs, in der eisigen Kälte …
    Sie hatte sie in diese Situation gebracht. Wenn sie das Richtige sagte, könnte sie sie vielleicht wieder herausholen.
    »Liebster«, sagte der Golem und legte dem Dschinn eine Hand auf den Arm, »wir sollten jetzt nach Hause gehen. Es ist wirklich kalt.«
    Seine Augen flackerten überrascht auf, aber er hatte sich sofort wieder unter Kontrolle. »Natürlich«, sagte er und schob ihre Hand in seine Ellbogenbeuge. Er lächelte die Männer an. »Ich bitte um Entschuldigung. Es war ganz und gar meine Schuld. Gute Nacht.«
    Und sie drehten um und gingen davon.
    »Gute Nacht«, rief ihnen ein Polizist halbherzig nach.
    Schweigend und angespannt gingen sie durch den Park zurück. Erst als sie den Broadway erreicht hatten, wagte es der Dschinn, sich umzublicken. »Wir sind allein«, sagte er und ließ ihre Hand los.
    »Ich weiß. Sie sind uns nicht gefolgt. Sie wollten zurück in ihr Revier und sich aufwärmen.«
    »Das ist eine seltsame Gabe, die du da hast«, sagte er und schüttelte den Kopf. Dann grinste er sie an.
»Liebster?«
    »So nennt Mrs. Radzin ihren Mann, wenn sie wütend auf ihn ist.«
    »Ich verstehe. Das war clever.«
    »Es war riskant.«
    »Aber es hat funktioniert. Und der Himmel ist noch immer nicht eingestürzt.«
    Nein, das ist er nicht, dachte sie. Es war kein bleibender Schaden entstanden. Sie hatte im richtigen Moment das Richtige gesagt.
    Sie gingen weiter, zurück Richtung Süden. Der spärliche Verkehr auf dem Broadway hatte sich verändert: Es waren nicht länger elegante Einspänner unterwegs, sondern von Pferden gezogene Fuhrwerke, die die Waren für den nächsten Tag in das Herz der Stadt brachten. Ein junger Schuhputzer baute an einer Straßenecke seinen Stand auf, beugte sich vor und blies auf seine bloßen Finger.
    Sie hatten gerade den Union Square hinter sich gelassen, als es zu schneien begann. Zuerst war es nur Graupel, aber dann wurden schwere Flocken daraus, die ihnen ins Gesicht wehten. Der Golem zog den Umhang fester um sich und bemerkte, dass Ahmad den Schritt beschleunigt hatte. Sie konnte kaum mehr mit ihm mithalten. Sie wollte ihn gerade fragen, was los war, als sie sah, dass sein Gesicht trotz des dichten Schneefalls nicht nass war. Die Flocken landeten auf seinem Gesicht und verdampften sofort. Sie erinnerte sich, was er während ihres Streits gesagt hatte:
Ich würde mich lieber in den Ozean stürzen und umbringen.
    »Alles in Ordnung?«, fragte sie.
    »Alles in Ordnung«, erwiderte er. Doch sein zerstreuter Tonfall sagte etwas anderes. Und sie hätte schwören können, dass sein Gesicht jetzt schwächer glühte als zuvor.
    Leise fragte sie: »Schwebst du in Gefahr?«
    Er biss die Kiefer zusammen, aus Zorn oder Irritation; doch dann entspannte er sich und lächelte sie betrübt an. »Nein. Noch nicht. Siehst du es, oder hast du es erraten?«
    »Ich glaube, beides.«
    »Von jetzt an werde ich immer daran denken, dass du viel zu aufmerksam bist.«
    »Der Winter muss schrecklich für dich sein.«
    »Er ist jedenfalls kein Vergnügen.«
    Sie gingen jetzt unter dem Schutz der Markisen, dennoch war er blass, als sie die Bond Street erreichten. Der Golem warf ihm immer wieder besorgte Blicke zu.
    »Du musst mich nicht so ansehen«, sagte er. »Ich werde nicht sterben.«
    »Aber warum trägst du keinen Hut oder nimmst einen Schirm mit?«
    »Weil ich beides nicht ausstehen kann.«
    »Sind alle deine Artgenossen so eigensinnig?«
    Er lächelte. »Die meisten von uns, ja.«
    Kurz vor der Hester Street blieben sie unter der Markise eines italienischen Lebensmittelgeschäfts stehen; im

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