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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Stein.
    Sie stand vor dem Grab und fragte sich, was sie jetzt tun sollte. Erwartete Michael, dass sie ihren Schmerz zeigte? Dass sie weinte?
    Michael räusperte sich. »Ich lasse Sie einen Augenblick allein.«
    »Danke«, sagte sie. Er schlenderte den Pfad entlang, bis er nicht mehr zu sehen war, und sie war allein mit dem Rabbi.
    »Ich vermisse Sie«, murmelte sie. Sie ging neben dem Grab in die Hocke und versuchte sich vorzustellen, wie er unter der Erde lag. Es erschien ihr unmöglich, auch wenn alle ihre Sinne ihr sagten, dass er von dieser Welt verschwunden war.
    Sie überlegte, was sie ihm erzählen sollte. »Allen in der Bäckerei geht es gut«, sagte sie. »Anna hat einen neuen Verehrer und scheint glücklich zu sein, aber ich weiß, dass Sie es missbilligen würden. Ich habe angefangen, Kleider zu flicken, damit ich nachts etwas zu tun habe. Die Nächte sind noch immer am schwierigsten. Aber diese Woche bin ich nachts ausgegangen – mit einem Mann. Er muss sich verstecken, wie ich. Nächste Woche werde ich ihn wiedersehen. Es tut mir leid, Rabbi. Ich weiß, ich sollte so etwas nicht tun. Aber ich glaube, sie werden mir helfen, die Spaziergänge mit ihm.«
    Sie fuhr mit einer Hand durch den Schnee, als würde sie auf ein Zeichen warten: ein Zittern der Erde, eine vorwurfsvolle Geste. Aber nichts passierte. Alles blieb still.
    Ein paar Minuten später kehrte Michael zurück und stellte sich neben sie. »Ich sollte Ihnen auch Zeit lassen«, sagte sie und wandte sich ab, um sich zu entfernen; aber er legte ihr die Hand auf den Arm. »Bitte bleiben Sie«, sagte er. »Ich bin nicht gern allein auf Friedhöfen.« Er sagte die Wahrheit: Leises, unbestimmtes Entsetzen und Unbehagen breiteten sich in ihm aus.
    »Selbstverständlich«, beruhigte sie ihn und blieb neben ihm stehen.
    »Er war ein wunderbarer Mann«, sagte Michael, und dann begann er zu weinen. »Entschuldigen Sie«, sagte er und wischte sich die Tränen weg. »Ich hätte etwas unternehmen sollen, um seinen Tod zu verhindern.«
    »Sie haben keine Schuld daran«, widersprach sie.
    »Aber wenn ich nicht so stur gewesen wäre – wenn
er
nicht –«
    »Dann wären sie alle beide andere Menschen gewesen«, sagte der Golem in der Hoffnung, dass es das Richtige war. »Und er hat sehr viel von Ihnen gehalten. Er hat sie einen guten Menschen genannt.«
    »Wirklich?«
    »Warum überrascht Sie das, wo Sie so vielen Menschen helfen?«
    »Ich wollte nichts mehr mit Religion zu tun haben. Wahrscheinlich hat er geglaubt, dass ich auch mit
ihm
nichts mehr zu tun haben wollte.«
    »Ich glaube, auf seine Weise hat er es verstanden«, sagte sie zögernd. Sie war nicht sicher, ob es stimmte – aber Michael schien zu trösten, was sie sagte, und das hätte der Rabbi gewollt, davon war sie überzeugt.
    Michael seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Beide schauten auf den Grabstein. »Ich muss die Inschrift machen lassen«, sagte er. »Später im Jahr.« Er blickte zu ihr. »Normalerweise bete ich nicht, aber wenn Sie möchten –«
    »Ist schon in Ordnung«, sagte der Golem. »Ich habe schon gebetet, allein.«
     
    Mit Straßenbahn und Zug gelangten sie zurück in die Lower East Side. Die Sonne stand tief am Himmel; feiner Schnee fegte durch die Straßen.
    »Darf ich Sie in ein Café einladen?«, fragte Michael und fügte hinzu: »Natürlich nur, wenn Sie Zeit haben. Ich will nicht Ihren ganzen Tag für mich beanspruchen.«
    Sie hatte sich darauf gefreut, nach Hause zu gehen; die Straßenbahnen waren überfüllt gewesen mit Menschen und ihren Wünschen. Aber es fiel ihr auf die Schnelle keine Ausrede ein, und seine hoffnungsvollen Gefühle zerrten an ihr. »Na gut«, sagte sie. »Wenn Sie möchten.«
    Sie gingen in ein dunkles Café voller junger Männer, die alle miteinander zu streiten schienen. Er bestellte Kaffee und Mandelkekse, und sie saßen nebeneinander und horchten auf die Diskussionen, die um sie herum ausgetragen wurden.
    »Ich hatte vergessen, wie laut es hier ist«, sagte er, als wollte er sich entschuldigen.
    Die Stimmen stritten auch in ihrem Kopf und baten um abstrakte Dinge:
Frieden, Rechte, Freiheit.
»Sie klingen alle sehr zornig«, sagte sie.
    »Oh, absolut. Jeder von ihnen hat eine andere Theorie über das, was nicht stimmt auf der Welt.«
    Sie lächelte. »Und haben Sie auch eine Theorie?«
    »Ich hatte eine«, sagte er. Er dachte einen Augenblick lang nach, dann fuhr er fort: »Jede Woche sehe ich Hunderte Männer im Wohnheim. Sie

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