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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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brauchen alle das Gleiche – eine Unterkunft, Arbeit, Englischunterricht. Aber manche sind zufrieden mit allem, was sich ihnen bietet, und andere sind mit nichts zufrieden. Und dann gibt es noch ein paar, die nur auf ihren Vorteil aus sind. Wenn meine Freunde darüber reden, wie man die Welt verbessern kann, kommen sie mir fürchterlich naiv vor. Als könnte es eine einzige Lösung für alle unsere Probleme geben, die uns zu Unschuldigen im Garten Eden macht. Aber in Wirklichkeit werden wir unsere schlechten Eigenschaften nie ablegen können.« Er schaute sie an. »Was denken
Sie?
«
    »Ich?«, fragte sie erschrocken.
    »Glauben Sie, dass wir alle im Grunde gut sind? Oder dass wir nur beides sein können, gut und böse?«
    »Ich weiß nicht«, sagte sie und versuchte, unter seinem Blick nicht nervös herumzuzappeln. »Aber ich glaube, die Menschen wollen manchmal nur deshalb etwas, was sie nicht haben,
weil
sie es nicht haben. Auch wenn alle teilen würden, würden sie nur den Teil wollen, der ihnen nicht gehört.«
    Er nickte. »Genau. Und ich sehe nicht, wie sich das ändern sollte. Die menschliche Natur ist immer gleich, egal in welchem System.« Dann schmunzelte er. »Entschuldigen Sie, ich will mit Ihnen eigentlich gar nicht über Politik sprechen. Reden wir über etwas anderes.«
    »Worüber sollen wir reden?«
    »Erzählen Sie mir von sich. Ich weiß nur sehr wenig über Sie.«
    Der Mut verließ sie. Sie müsste ihre Worte sorgfältig wählen. Sie müsste lügen und sich ihre Lügen gut merken, um sich später nicht zu verraten. »Ich war verheiratet«, sagte sie unsicher.
    »Ach, ja.« Michael machte ein langes Gesicht. »Das wusste ich. Sie müssen ihn vermissen.«
    Sie könnte sagen,
Ja, ich habe ihn sehr geliebt
, und alle weiteren Nachfragen unterbinden. Aber verdiente Michael nicht wenigstens ein bisschen Aufrichtigkeit? »Ja, manchmal«, sagte sie. »Aber … um ehrlich zu sein, wir haben uns nicht sehr gut gekannt.«
    »War es eine arrangierte Ehe?«
    »Vermutlich, in gewisser Weise.«
    »Und Ihre Eltern haben Ihnen keine Wahl gelassen?«
    »Ich hatte keine Eltern«, sagte sie tonlos. »Und er war ein wohlhabender Mann und hat sich gekauft, was er wollte.« Das zumindest stimmte: Sie erinnerte sich an Rotfelds Stolz auf das, was er sich mit seinem Geld hatte kaufen können, eine perfekte Frau in einer hölzernen Kiste.
    »Kein Wunder, dass mein Onkel Ihnen helfen wollte«, sagte Michael. »Es tut mir leid. Ich kann mir nicht einmal entfernt vorstellen, wie einsam Sie gewesen sein müssen.«
    »Es ist schon in Ordnung.« Sie fühlte sich bereits ein wenig schuldig. Was für Geschichten dachte er sich jetzt aus, um die Einzelheiten zu ergänzen? Es war Zeit, das Gespräch, wenn möglich, wieder auf ihn zu bringen. »Aber jedes Leben muss einsam erscheinen verglichen mit Ihrem. Sie sind jeden Tag von Hunderten Männern umgeben.«
    Er lachte. »Das stimmt. Obwohl ich sie nicht gut kennenlerne, weil sie nur fünf Tage im Wohnheim bleiben. Obwohl – da ist ein Mann, der jetzt schon seit ein paar Wochen bei uns ist, seitdem ich krank war.« Er lächelte. »Ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Ich kam zurück und hatte damit gerechnet, das absolute Chaos vorzufinden, doch da war dieser nette alte Mann, der sich um alles gekümmert und für Ordnung gesorgt hat. Meine Mitarbeiter essen ihm praktisch aus der Hand. Ich bestehe darauf, ihm ein bisschen was zu zahlen, wenn auch längst nicht so viel, wie er verdienen würde.«
    »Es klingt, als ob Sie Glück gehabt hätten«, sagte der Golem.
    Er nickte. »Sie sollten ihn kennenlernen. Er erinnert mich an meinen Onkel. Ich glaube, er war früher Rabbi – er hat so etwas an sich. Als würde er mehr wissen, als er zugibt.«
    Es war spät geworden. Die Männer verließen langsam das Café, alle Streitigkeiten blieben wie gewöhnlich unentschieden. Draußen ging ein Junge vorbei, der die Gaslaternen anzündete, seine Stange über der schmalen Schulter wie ein Bajonett. »Ich sollte jetzt nach Hause gehen«, sagte der Golem. Sie hatte eine vage Angst davor, dass er sie begleiten wollte.
    »Natürlich«, sagte er. »Ich bringe Sie nach Hause.«
    »Ich möchte nicht, dass Sie sich meinetwegen Umstände machen.«
    »Nein, ich bestehe darauf.«
    Als sie sich ihrer Pension näherten, wurde sich der Golem bewusst, dass sie wie ein Paar wirkten, das in der Abenddämmerung spazieren geht. Michael, das sah sie, sammelte den Mut, um sie zu fragen, ob sie sich

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