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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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es ist alles in Ordnung«, versicherte sie ihm. »Ich habe alles, was ich brauche.«
    »Vermutlich sind Ihre Bedürfnisse die gleichen wie meine«, sagte er mit einem verlegenen Lächeln. »Ein bisschen essen, ein bisschen schlafen und dann wieder arbeiten.«
    Ihr eigenes Lächeln wurde ein wenig kleiner, aber er bemerkte es nicht und fuhr fort: »Morgen will ich das Grab meines Onkels besuchen. Ich weiß nicht, ob Sie den Sabbat einhalten, aber ich dachte, wenn Sie mitkommen wollen …«
    Seine Nervosität und unausgesprochenen Hoffnungen waren ihr unangenehm, aber sie wollte von ganzem Herzen das Grab des Rabbis sehen. »Ja«, sagte sie. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar.«
    Sie verabredeten sich für zehn Uhr morgens vor ihrer Pension. Als er ging, klang das Läuten der Türglocke misstönend durch die stille Bäckerei.
    Sie war erleichtert, als er gegangen war. Wenn es nur anders zwischen ihnen sein könnte! Es wäre schön, einen Freund zu haben, jemanden, der den Rabbi gekannt hatte. Aber dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, komplizierte die Angelegenheit, vor allem weil sie sah – vielleicht deutlicher als er –, dass seine Zuneigung zu ihr mit Schuldgefühlen und Gewissensbissen verwoben war. Und aus einer vorübergehenden Vernarrtheit war eine dunkle Faszination geworden. Sie würde mit ihm sprechen müssen. Freundlich, wenn möglich.
    Anna hatte sich im Hintergrund aufgehalten und an ihren Schnürsenkeln herumgefummelt. Als der Golem jetzt ihren Umhang nahm, lächelte sie durchtrieben.
    »Schau mich nicht so an«, murmelte der Golem. »Er ist ein Freund, nichts weiter.«
    »Möchtest du, dass mehr daraus wird?«
    »Nein, das will ich nicht!« Sie hielt inne und zwang sich, die Hände stillzuhalten; sie war drauf und dran gewesen, eine Schnalle von ihrem Umhang zu reißen. »Ich habe keine solchen Gefühle für ihn. Aber er für mich.« Sie wandte sich wehleidig an Anna. »Warum können wir nicht nur Freunde sein? Warum muss es immer kompliziert werden?«
    »So ist es nun mal«, sagte Anna und zuckte die Achseln.
    »Es ist ärgerlich.«
    »Als ob ich das nicht wüsste! All die Männer, die ich schon abweisen musste! Aber Chava, du kannst nicht den Rest deines Lebens allein verbringen. Das ist nicht normal!«
    »Wäre es besser, Michael anzulügen und Dinge zu sagen, die ich nicht empfinde?«
    »Nein, natürlich nicht. Aber Gefühle brauchen Zeit, um sich zu entwickeln. Und ich denke nicht gern daran, wie du mit all diesen verstaubten Jungfern in der Pension sitzt und ihre Schlüpfer flickst.«
    »Ich flicke nicht ihre
Schlüpfer
, Anna.«
    Das Mädchen kicherte. Nach einem Augenblick lachten sie beide. Sie war noch immer unsicher, was sie von Anna mit ihren stürmischen Affären und Schwärmereien halten sollte; doch die junge Frau wurde überraschenderweise zu einer Quelle des Trosts.
     
    Am nächsten Morgen wartete Michael Levy zur vereinbarten Zeit vor der Pension. Sie fuhren mit der Straßenbahn zur Park Row und stiegen dort in den Zug nach Brooklyn. Die vielen Fahrgäste machten sie nervös, und sie sagte: »Ich bin noch nie über die Brücke gefahren.«
    »Machen Sie sich keine Sorgen.« Er lächelte. »Es ist nicht so gefährlich, wie den Ozean zu überqueren.«
    Der Zug ruckelte aus dem Depot und auf die Rampe. Sie kamen an Fuhrwerken und Fußgängern vorbei. Schornsteine spukten zu beiden Seiten Ruß und Rauch aus und fielen zurück, als sie sich der Brücke näherten. Sie hatte gehofft, auf das Wasser schauen zu können, aber das Gleis befand sich in der Mitte der Brücke hinter einem Zaun aus Pfosten und Brückenträgern. Durch diesen Zaun gesehen, schienen sich die Pferde und Wagen auf den äußeren Spuren holperig und lahm zu bewegen.
    Der Zug kam kreischend in Brooklyn zu stehen. Ohne große Worte führte Michael sie zur Straßenbahn. Sie mussten noch ein paarmal umsteigen. Und dann gingen sie endlich einen langen breiten Weg auf ein großes verschnörkeltes Tor zu.
    Die Welt schien zu verstummen, als sie hindurchgingen. Aus dem breiten Weg wurde ein gewundener Pfad, der schließlich den Blick freigab auf schneebedeckte Hügel mit Reihen von Grabsteinen.
    »Es ist wunderschön hier«, sagte sie überrascht.
    Sie kamen an großen Grabmalen, efeubewachsenen Mausoleen und auf Säulen stehenden Büsten ernster Männer vorbei. Dann führte Michael sie eine Reihe von Gräbern entlang, und da waren sie: die längliche Aufschüttung weiß gepuderter Erde und der zur Hälfte beschriftete

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