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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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wiedersehen, vielleicht einmal gemeinsam abendessen könnten. –
    »Ich kann nicht«, sagte sie, blieb stehen und nahm die Hand von seinem Arm.
    Überrascht blieb auch er stehen. »Was ist los?«, fragte er.
    Die Worte purzelten ihr nur so aus dem Mund. »Es tut mir leid, Michael. Ich weiß, dass Sie sich für mich interessieren.«
    Er wurde blass, versuchte es dann mit einem schiefen Lächeln. »Ist es so offensichtlich?«
    »Sie sind ein sehr guter Mensch«, sagte sie unglücklich. »Aber ich kann nicht. Ich kann einfach nicht.«
    »Natürlich«, sagte er. »Es ist zu früh. Natürlich. Entschuldigen Sie. Wenn ich Sie irgendwie in Bedrängnis gebracht habe –«
    »Nein, nein, bitte, entschuldigen Sie sich nicht!« Sie fühlte, wie Verzweiflung in ihr aufstieg. »Ich möchte, dass wir Freunde sind, Michael. Können wir nicht einfach Freunde sein? Wäre das nicht in Ordnung?«
    Sofort wusste sie, dass sie das Falsche gesagt hatte.
    »Selbstverständlich!«, entgegnete er. »Ja, natürlich. Das ist schließlich das Wichtigste. Freundschaft.«
    Sie konnte nur nicken, traute sich nicht zu, noch etwas zu sagen.
    »Gut!« Seine Stimme klang hohl. »Abgemacht.« Er legte ihre Hand wieder auf seinen Arm, als wollte er beweisen, dass sich nichts geändert hatte; und so gingen sie den letzten Block bis zu ihrer Pension, ein perfekt zusammenpassendes Paar, während sie sich beide bei jedem Schritt verzweifelt wünschten, woanders zu sein.

    Mitternacht war lange vorbei, und der Vollmond sank langsam auf den East River hinunter, zwischen Brückenkabeln und Wassertanks hindurch, um in die Fenster des Wohnheims zu scheinen. Das Licht kroch über die triste graue Wolle der Decken auf den Pritschen und traf auf die offenen Augen von Yehudah Schaalman, der genau darauf gewartet hatte. Er brauchte das Mondlicht, um zu schreiben.
    Bislang entwickelte sich alles besser, als Schaalman zu hoffen gewagt hatte. Er hatte vermutet, dass die Rückkehr des Direktors eine Hürde wäre, dass er den Mann mit einem Zauber belegen oder seinen Verstand benebeln müsste; doch Levy war ein noch leichterer Gegner als sein Personal. Zuerst hatte Schaalman die angebotene Entlohnung abgelehnt, aber dann nahm er sie an. Niemand war
so
altruistisch, nicht einmal der Mann, der er vorgab zu sein.
    Er hatte seine Stellung gestärkt und das Vertrauen aller Mitarbeiter gewonnen. Es war Zeit, den nächsten Teil seines Plans in die Tat umzusetzen. Sein Traum hatte ihm versprochen, dass New York das Geheimnis
ewigen Lebens
bereithalte, aber er musste einen Weg finden, seine Suche einzuengen, eine Wünschelrute, die ihm die Richtung wies. Und was war besser, als sich selbst in eine Wünschelrute zu verwandeln?
    Er griff unter seine Matratze und holte den zerfledderten Packen verbrannter Papiere hervor. Er sortierte sie im Mondschein und legte die Blätter zur Seite, die Bedeutung für sein Vorhaben hatten. Bald hatte er einen dünnen Stapel.
    Er nahm ein leeres Blatt Papier und einen Bleistift und begann, sich Notizen zu machen. Wenn er diesen Spruch mit dem Namen Gottes kombinierte … Er notierte Formeln und strich sie durch, zeichnete Schaubilder von verästelten Bäumen, deren Blätter die Buchstaben des Alphabets waren. Er arbeitete stundenlang, bis er endlich, kurz vor Tagesanbruch, in einen Rausch geriet, als plötzlich alles klar erschien, die Schaubilder, Formeln und Sprüche zu einem Ganzen verschmolzen. Sein Bleistift tanzte ekstatisch über das Papier. Schließlich kam seine Hand zur Ruhe, und er betrachtete, was er geschrieben hatte, und spürte bis ins Mark seiner Knochen, dass es ihm gelungen war. Der altvertraute Schmerz durchfuhr ihn – was hätte er nicht werden können, hätte er die Chance gehabt! Oh, was er hätte erreichen können!
    Er schaute sich um, aber alle seine Nachbarn schliefen. Er holte tief Luft, und begann leise zu lesen, was er geschrieben hatte.
    Eine lange, ununterbrochene Reihe von Silben strömte aus Schaalmans Mund. Manche waren weich und träge wie ein breiter Fluss. Andere waren hart und abgehackt, und Schaalman stieß sie zwischen den Zähnen hervor. Selbst einer der alten Weisen, der nicht nur Hebräisch und Aramäisch beherrschte, sondern sich auch mit jahrhundertealten mystischen Überlieferungen auskannte, hätte sich schwergetan, den Sinn zu erfassen. Er hätte hier und da Bruchstücke verstanden: Teile von Gebeten, Namen Gottes, die Buchstabe um Buchstabe zusammengesetzt waren. Doch der Rest wäre ein

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