Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
aber das wurde ihr sofort verziehen: Es war ihr erster Tanz, und jeder konnte sich noch daran erinnern, wie es das erste Mal gewesen war. Jemand flüsterte, dass sie Witwe war, und gleich hatte ihre stille Art etwas von einem traurigen, romantischen Geheimnis.
Nach einer kurzen Pause begann die Kapelle wieder zu spielen, und der Tanz begann jetzt richtig. Der Golem sah, wie weibliche Paare die Tanzfläche betraten und sich an Schulter und Taille fassten. Sie drehten sich mit kleinen hüpfenden Schritten im Kreis, Röcke und Rüschen flatterten, und die Frauen lächelten über die Schulter ihrer Partnerin den Männern zu, die sich jetzt am Rand der Tanzfläche aufstellten.
»Schau nur«, sagte Estelle zum Golem und deutete auf zwei Männer. »Sie nehmen allen Mut zusammen.« Und tatsächlich gingen die beiden Männer auf die Tanzfläche und näherten sich zwei tanzenden Frauen. Lächelnd ließen die Frauen einander los und wandten sich ihren neuen Partnern zu.
»Siehst du?«, sagte Estelle. »So wird es gemacht. Und jetzt bist du dran.« Sie fasste den Golem bei der Hand und wollte sie auf die Tanzfläche ziehen.
»Aber –«
»Komm schon!«
Es war sinnlos, Widerstand zu leisten; wenn Estelle noch länger am Arm des Golems zerrte, würde das Mädchen merken, wie stark sie war. Und so folgte sie Estelle und war sich plötzlich der vielen Menschen um sie herum bewusst.
Estelle schaute den Golem an und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du bist so groß, du musst führen«, sagte sie lachend. »Hier, halt mich fest.« Sie legte die Hand des Golems auf ihre schmale Taille. »Ich werde dir den Two Step beibringen. Du musst tun, was ich tue, nur in die entgegengesetzte Richtung.«
Der Golem erwies sich als begabte Tanzschülerin. Zuerst bewegte sie sich etwas unbeholfen und hatte Angst, Estelle auf die Zehen zu treten – doch innerhalb von Minuten ahmte sie mühelos spiegelbildlich die Schritte ihrer Lehrerin nach. Ihr Gefühl für das, was Estelle wollte, dass sie tat, half ihr dabei. Sie musste nicht einmal mehr auf ihre Füße schauen. Sie hielt sich vielleicht noch etwas steif, aber Estelle registrierte nur ihren Fortschritt. »Chava, du bist eine geborene Tänzerin!«, sagte sie.
»Meinst du?«
»Ich weiß es. Und schau jetzt nicht hin, aber ich glaube, Anna sagt den Jungs dort, dass sie mit uns tanzen sollen.«
»Was? Wer?« Und tatsächlich sprach Anna mit zwei jungen Männern, einer davon groß und einer klein, beide in Jackett und mit Kreissäge-Hüten. Die Männer sahen zu ihnen. Der Kleinere stieß den Größeren an, und sie schlenderten um den Tisch und auf die Tanzfläche. Der Golem warf Anna einen verzweifelten Blick, aber das Mädchen winkte ihr nur lachend zu.
»Keine Angst«, sagte Estelle. »Ich kenne sie, das sind nette Jungs. Du nimmst den Größeren, Jerry. Er ist ein Trottel, aber goldig. Sein Freund grapscht manchmal ein bisschen. Aber mach dir keine Sorgen, ich werde schon mit ihm fertig.«
Der Golem spürte, wie sich die zwei Männer näherten. Der Größere – Jerry? – wollte vor allem den Abend überstehen, ohne dass er ständig ausgelacht wurde. Der Kleinere hegte die Hoffnung auf ein romantisches Zwischenspiel auf der Straße. Beide wollten unbedingt tanzen.
Jemand tippte ihr auf die Schulter. Widerstrebend ließ sie Estelle los, die ihre Hand drückte, bevor sie sich ihrem Partner zuwandte. Der größere Mann lächelte sie verlegen an. »Ich bin Jerry«, sagte er.
»Ich bin Chava.«
»Freut mich, dich kennenzulernen, Chava. Wie ich höre, bist du Anfängerin.«
»Ja. Absolute Anfängerin.«
»Macht nichts, ich kann’s auch nicht gut.«
Es gab ein kleines Missverständnis, als beide nach der Taille des anderen fassten, und dann erinnerte sich der Golem, dass der Mann führen sollte. Sie legte ihm zaghaft eine Hand auf die Schulter und reichte ihm die andere.
»Meine Güte, du hast aber kalte Finger.«
Wie sich herausstellte, war Jerrys Bescheidenheit nicht geheuchelt. Er hatte Mühe, den Rhythmus zu halten, und konzentrierte sich so sehr auf seine Füße, dass er mitunter das Führen vergaß. Es dauerte nicht lange, und die anderen Paare machten einen großen Bogen um sie. Aber er war ein Gentleman und ließ seine Hand nicht von der Taille nach Süden rutschen, wie sie es andere Männer tun sah. Sie spürte, wie er seine Angst vor einem Gespräch überwand. »Du bist also eine Freundin von Anna«, erkundigte er sich.
»Ich arbeite mit ihr in der Bäckerei«,
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