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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Schwung, die Kapelle legte keine Pause mehr ein. Drei weitere Männer forderten sie zum Tanzen auf, der letzte ein betrunkener Junge, der einen Kopf kleiner war als sie und ihr ständig auf die Füße trat. Sie überlegte gerade, was sie diesbezüglich unternehmen sollte, als sich Jerry einmischte und ihn verscheuchte.
    »Danke«, sagte sie erleichtert.
    Er grinste. »Ich hätte mich früher eingeschaltet, aber er sah so komisch aus, wie er über deine Schulter geschaut hat. Anna wäre beinahe geplatzt vor Lachen.« Und tatsächlich lachte die junge Frau so heftig, dass sie vom Stuhl zu fallen drohte.
    »Hoffentlich kommt Irving bald«, sagte sie. »Ich würde Anna gern tanzen sehen.«
    »Ja«, sagte Jerry. »He, Chava, glaubst du –«
    Aber was immer Jerry sie fragen wollte, ging unter, als der Two Step den Golem in die Nähe einer großen verschnörkelten Uhr an der Wand in seinem Rücken führte, einer Uhr, deren Zeiger weit nach elf Uhr anzeigten.
    »O nein!«, rief sie. Wie hatte so viel Zeit vergehen können, ohne dass sie es merkte? Sie wandte sich von dem verwirrten Jerry ab und lief zum Tisch, um ihren Umhang zu holen. »Tut mir leid, Anna, ich muss gehen!«
    Anna und ihre Freundinnen protestierten. Wofür konnte sie schon zu spät sein? Wollte sie Irving nicht kennenlernen? »Du hast viel zu viel Spaß, um schon zu gehen«, sagte Anna. Doch der Golem ertrug den Gedanken nicht, dass Ahmad vor ihrer Wohnung wartete und glaubte, sie hätte ihn vergessen.
    Vielleicht, dachte sie plötzlich, könnte sie beides unter einen Hut bringen. Sie blickte in die Gesichter ihrer neuen Freunde und auf den schönen Saal. Vielleicht war sie diesmal an der Reihe,
ihm
etwas Neues zu zeigen.
    »Macht euch keine Sorgen«, sagte sie zu ihnen. »Ich bin gleich wieder da.«
     
    So unglaublich es war, aber Chava war nicht zu Hause.
    Der Dschinn schaute mürrisch zu ihrem Fenster hinauf und schwankte zwischen Gereiztheit und Besorgnis. Wo konnte sie bloß sein? Gewiss nicht mehr bei der Arbeit, und soweit der Dschinn wusste, gab es in ihrem Leben nur zwei Orte: die Bäckerei und die Pension. Selbst wenn sie länger hatte arbeiten müssen, sollte sie längst dort oben sitzen und bei Kerzenschein Kleider flicken. Bestimmt war sie nicht allein ausgegangen, so ängstlich wie sie war, etwas Unschickliches zu tun. Und selbst wenn, hätte sie ihm eine Nachricht, ein Zeichen, irgendetwas hinterlassen. Oder?
    Wie zum Hohn hatte er sich endlich entschlossen, mit ihr in die Washington Street zu gehen und ihr die Blechdecke zu zeigen. Sie wurde bereits zu einer lokalen Sehenswürdigkeit. Stets war mindestens ein Besucher da und starrte hinauf. Sogar in der arabischen Zeitung des Viertels war sie erwähnt worden als »herausragende Leistung eines örtlichen Kunsthandwerkers«.
    Jetzt kam ihm das Vorhaben natürlich fraglich vor. Er fühlte sich wie ein Schoßhündchen, das an einen Zaun gebunden ist. Erwartete sie von ihm, dass er die ganze Nacht Wache stand?
    Da hörte er das Geräusch stampfender Schritte. Eine Frau rannte auf der Straße auf ihn zu. Es war Chava, und sie war allein. Sie rannte, wenn schon nicht mit der übermenschlichen Geschwindigkeit wie im Park, so doch mit einer überstürzten Dringlichkeit, die an Leichtsinn grenzte. Sie flog an zwei erschrockenen Männern vorbei; einer schrie ihr etwas nach, doch sie schien es nicht zu hören. »Es tut mir so leid, ich habe mich verspätet!«, rief sie, als sie sich ihm näherte. Und dann hörte sie einfach auf, sich zu bewegen, und stand neben ihm.
    Er starrte sie erstaunt an. Warum sah sie so anders aus? Er bemerkte die Kämme in ihrem Haar und die Rüschen an ihrer neuen Bluse, aber es war noch etwas anderes. Dann wusste er es: Sie war glücklich. Ihre Augen funkelten, ihre Züge waren belebt; sie neigte sich zu ihm, lächelnd, voller ungeduldiger Zuversicht.
    »Entschuldige, ich war in einem Tanzlokal! Komm mit mir. Bitte sag ja. Anna und ihre Freundinnen sind dort, und ich möchte, dass du sie kennenlernst. Und du musst den Saal sehen, er ist wunderschön!«
    Ein Tanzlokal? Wer war diese Frau? »Aber ich kann nicht tanzen«, sagte er amüsiert.
    »Das macht nichts, ich bringe es dir bei.«
    Und er vergaß die Decke und ging mit ihr, fasziniert von ihrem neuen Überschwang. Was auch immer sie in diesen Zustand versetzt hatte, es lohnte bestimmt, es sich anzusehen. Offenbar war er zu langsam, denn sie fasste nach seiner Hand und zog ihn mit sich. »Brennt das Tanzlokal?«, fragte

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