Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Strähnen zur Seite. Dann glättete er das Haar links vom Scheitel und steckte es mit einem Kamm fest, seine Zinken glatt auf ihrer Kopfhaut. Anschließend wiederholte er die Prozedur auf der rechten Seite und drehte das Haar ein bisschen zusammen, bevor er es mit dem zweiten Kamm feststeckte. Er trat einen Schritt zurück, begutachtete sein Werk, nickte und ging zu seinem Wagen zurück.
»Warten Sie!«, rief der Golem. »Soll ich denn nicht dafür bezahlen?«
Er schüttelte den Kopf, ohne sich umzublicken, und schob seinen Karren weiter die Straße entlang. Sie stand einen Augenblick verdutzt da; dann lächelte sie und ging weiter.
In ihrem Zimmer zog sie ihre alte Bluse aus und die neue an. Das Bild, das sie im Spiegel sah, war erstaunlich. Die Rüschen um den Kragen rahmten ihr Gesicht ein, betonten ihre schmalen Wangen und ihre weit auseinanderstehenden Augen. Ihr von den Kämmen festgehaltenes Haar fiel ihr in Wellen auf die Schultern. Die gerüschten Manschetten ließen ihre Hände schlank und elegant wirken. Sie betrachtete sich minutenlang, erfreut und zugleich voller Unbehagen. Eine Maske oder ein Kostüm wären weniger aufregend gewesen als diese kleinen Verwandlungen. Sie hatte sich gerade genug verändert, um sich zu fragen, ob sie eigentlich noch sie selbst war.
Am nächsten Tag flüsterte Anna aufgeregt und kicherte bedeutungsvoll, und am Nachmittag hatte Mrs. Radzin von ihrem Vorhaben Wind bekommen. Unter einem Vorwand manövrierte sie den Golem ins Hinterzimmer. »Du weißt bestimmt, was du willst«, sagte die Frau. »Aber sei vorsichtig, Chavaleh. Du magst Anna, und ich mag sie auch, aber es ist nicht nötig, dass du deinen Ruf aufs Spiel setzt. Und es gibt andere Männer, bessere Männer, als du sie in einem Tanzlokal finden kannst. Was ist mit dem Neffen des Rabbis? War er nicht ganz vernarrt in dich? Ich weiß, dass er arm wie eine Kirchenmaus ist, aber Geld ist nicht alles.«
Das reichte. »Mrs. Radzin, bitte. Ich habe nicht vor, ›meinen Ruf aufs Spiel zu setzen‹, schon gar nicht in dem Sinn, den Sie meinen. Ich will Annas Irving kennenlernen und sehen, was für ein Mann er ist. Nichts weiter.«
Die Frau schnaubte verächtlich. »Ich kann dir sagen, was für ein Mann er ist. Nicht besser als alle anderen.« Doch sie ließ den Golem zu ihrer Arbeit zurückkehren und beschränkte ihren Unmut auf finstere Blicke.
Endlich war Feierabend, und der Golem ging nach Hause und zog die neue Bluse an. Die Kämme ins Haar zu stecken war kniffliger, als sie gedacht hatte, doch nach einer Weile hatte sie ihr Haar zu ihrer Zufriedenheit arrangiert. Sie machte sich auf zu der Adresse, die Anna ihr genannt hatte, und kaum hatte sie geklopft, wurde die Tür aufgerissen. »Du bist es!«, rief Anna überrascht, als hätte der Golem ihr nicht ein halbes Dutzend Mal versprochen zu kommen. Sie bat sie in die Wohnung. »Du siehst so hübsch aus mit dieser Frisur – und oh, lass mich deine Bluse sehen. Sie ist wunderschön!«
Im Wohnzimmer standen zwei junge Frauen in Unterwäsche vor einem Haufen Kleidungsstücke. Sie verstummten, als Anna mit dem Golem eintrat. »Mädels, das ist Chava. Seid nett zu ihr, sie ist schüchtern. Chava, das ist Phyllis, und das ist Estelle.«
Der Golem erstarrte unter ihren neugierigen Blicken und musste gegen eine plötzliche Panik ankämpfen. Wie hatte sie nur annehmen können, dass sie als Frau unter Frauen durchgehen würde? Was war nur in sie gefahren?
Doch die Frauen lächelten sie freundlich an. »Chava, wie schön, dich kennenzulernen. Anna hat uns alles über dich erzählt. Komm und hilf uns auszusuchen, was wir heute Abend anziehen«, sagte die eine – Phyllis? »Ich glaube, diese Bluse steht mir besser, aber an der anderen finde ich die Knöpfe so schön.«
»
Die
ziehe
ich
an«, sagte das andere Mädchen.
»Die ist dir viel zu eng!«
»Nein, ist sie nicht.«
Zögernd betrat der Golem das Wohnzimmer, unsicher, was die Etikette erforderte. Sollte sie sich auch ausziehen? Nein, sie schienen es für vollkommen normal zu halten, dass sie in Stiefeln und mit ihrem Hut auf dem Kopf dastand, während sie Blusen und Röcke anprobierten und wieder verwarfen. Schließlich bemerkten sie ihre Bluse, staunten und bewunderten sie und wollten unbedingt wissen, wo sie sie gekauft hatte. Die Aufmerksamkeit machte sie nervös, aber sie waren so ungeheuchelt nett zu ihr, dass sie sich wieder entspannte und sogar lächelte.
Plötzlich fiel ihr auf, dass Anna verschwunden
Weitere Kostenlose Bücher